Die Vermissten

von Redaktion

Radiohead waren neun Jahre weg – jetzt spielen sie vier Shows in Berlin

Die LED-Leinwände über dem Bühnenrund wurden zur Projektionsfläche. © Johannes Löhr

Macht das Fremdeln zum Gemeinschaftserlebnis: Thom Yorke von Radiohead. © Alex Lake

Der magischste Moment dieses Abends voller magischer Momente ist der Augenblick, an dem man sich erinnert. Daran, wie das war, „Everything in its right Place“ zum ersten Mal zu hören. Ein Song wie ein schwaches Signal aus dem All, voller elektronischer Störgeräusche, die hohe Buben-Stimme Thom Yorkes zerstückelt, doch zärtlich. Das Lied machte Isolation geradezu fühlbar. 2001 war das, als die LP „Kid A“ von Radiohead die Pop-Welt erschütterte. Schroffe Kunstmusik, Alien-Blues, kommerzieller Selbstmord einer großen Rockband, hieß es. Von wegen: An diesem Montagabend in Berlin spielt der Sänger die Anfangsakkorde auf dem E-Piano, und als die 17 000 in der ausverkauften Uber-Arena das Lied erkennen, bläst der Jubel fast das Dach von der Halle. Die Leute singen mit – und als gegen Ende das Schlagzeug einsetzt, klatschen sie im Rhythmus.

Was ist diese Band vermisst worden. Die nach ihren eigenen Regeln spielt, die ihr stilistisches Besteck erweitert hat, wie nur die Beatles das taten, die Songs über das Fremdeln mit der Welt zu einem Gemeinschaftserlebnis macht. Die experimentiert, und der doch alle folgen. Neun Jahre sind die Briten nicht mehr in Deutschland aufgetreten, genauso lange haben sie keine neue Musik mehr herausgebracht. Man habe sich auseinandergelebt, wurde gemunkelt, die Mitglieder verfolgten andere Projekte. Waren Radiohead einfach so verschwunden? Und jetzt das: eine kompakte Europa-Tour, jeweils vier Konzerte in Madrid, Bologna, London, Kopenhagen und Berlin. In Windeseile ausverkauft. Die Fans sind aus aller Welt angereist – in den Korridoren herrscht ein babylonisches Stimmengewirr: Polnisch, Holländisch, Französisch, Schwäbisch. Viele Junge darunter, vielleicht weil „Let down“ von 1997 nach 28 Jahren zum Hit geworden ist – TikTok und TV-Serien („The Bear“) sei Dank.

Als wollten sie zeigen, dass sie immer noch eine Einheit sind, haben Radiohead mitten in die Halle eine 360-Grad-Bühne gestellt, auf der sie Rücken an Rücken performen. Zunächst ist das Rund ummantelt von LED-Leinwänden, hinter denen die Band nur schemenhaft zu sehen ist. Doch nach dem Eröffnungsstück „Planet Telex“ heben sich die Wände, geben den Blick frei und dienen fortan als Projektionsflächen.

Auch optisch lässt sich das Bandgefüge so gut nachvollziehen. Im Herzen zwei Schlagzeuge und ein Elektronik-Fuhrpark. Hier entstehen das Rauschen, der Raumklang, die Breakbeats, die Songs wie „15 Steps“, „Weird Fishes/Arpeggi“ und „The Gloaming“ zu Groove-Monstern machen. Am Bühnenrand hauen Johnny Greenwood und Ed O’Brien zu „Paranoid Android“ in die Saiten, Yorke vollführt Veitstänze, boxt in die Luft, barmt die Balladen „No Surprises“ und „Videotape“ mit geschlossenen Augen. Die Menge hängt an seinen Lippen, und er sagt doch kaum ein Wort außer „Good Evening“, „Thank you“ – und einmal: „Liebling“. Das passt.

Am Ende singt die ganze Halle „Karma Police“ mit, vor allem die Zeilen, die übersetzt so viel bedeuten wie: „Das habt Ihr davon, wenn Ihr Euch mit uns anlegt!“ Wie auch immer die Zukunft von Radiohead aussieht – so klingt keine Band, die einfach verschwinden will.JOHANNES LÖHR

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