NEUERSCHEINUNG

Leben in der „Zustimmungsdiktatur“

von Redaktion

Götz Aly blickt auf die NS-Zeit und stellt die Frage „Wie konnte das geschehen?“

Götz Aly ist eine Art Enfant terrible in der meist sehr gediegenen Zunft der Geschichtswissenschaftler. Er eckte mit Beiträgen etwa zu Kontinuitäten zwischen der NS- und der bundesdeutschen Behindertenpolitik, zur verschwiegenen NS-Vergangenheit prominenter Historiker und mit eigenwilligen Thesen zur Holocaustforschung immer wieder an. Man darf annehmen: manchmal durchaus mit Bedacht.

Sein jüngsten Buch ist, wie eigentlich alle seine Werke, anregend und ärgerlich zugleich. Anregend, weil Aly wie immer originell und gegen den Strich argumentiert. Ärgerlich, weil er störende Befunde einfach ausblendet. Nur ein Beispiel: Bei der Frage „Wie konnte das geschehen?“ konzentriert sich Aly zunächst auf die Zeit von Hitlers Machtübernahme nach dem 30. Januar 1933. Er hebt etliche „volksnahe“ sozialpolitische Wohltaten der Regierung hervor, die ihr die Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung sicherten. Zum Beispiel Gesetze zum Pfändungsstopp oder zum Mieterschutz. Gebühren für Krankenscheine und Rezepte wurden gesenkt, später im Krieg folgten saftige Rentenerhöhungen und bahnbrechend für 1941/42 die Einführung der Krankenversicherung für Rentner und die Unfallversicherung. Dazu kam eine populistische Symbolpolitik wie die Ankündigung Hitlers, er werde auf sein Gehalt als Reichskanzlers verzichten. „Die Führer des NS-Staats“, resümiert Aly, „wussten genauer als viele Politiker in der Weimarer Republik, wo die Lücken im sozialpolitischen Netz bestanden“.

Doch ist die dauerhafte Machtsicherung Hitlers ohne Diktatur und Terror erklärbar? Sicher nicht. Bei Aly kommt das entschieden zu kurz. Das Ermächtigungsgesetz, die Reichstagsbrandverordnung, der Boykott gegen Juden – das waren gleich zu Beginn essenzielle Bausteine auf dem Weg zur totalen Machtergreifung und Unterdrückung der Gegner. Beim Nachweis, die Gewerkschaften seien in Wahrheit nicht zerschlagen worden, sondern nahtlos in die Deutsche Arbeitsfront überführt worden, verlässt sich Aly auf eine (!) Regionalstudie.

Nichtsdestotrotz enthält Alys Buch wichtige Einsichten in die Herrschaftspraxis der Nationalsozialisten, etwa zur Attraktivität der NS-Bewegung gerade für jüngere Wehrmachts-Offiziere oder für Nachwuchs-Akademiker. Der NS-Staat, dieses schonungslose Urteil fällt Aly, war lange Jahre eine „Zustimmungsdiktatur“.

Gegenüber der Online-Plattform „Jung & naiv“ hat Aly angekündigt, ein derart dickes Buch nicht mehr zu schreiben. Verständlich, er ist 78. Aber schade. Ein Buch jedenfalls fehlt bis heute: eine Autobiografie. Aly kommt aus der 68er-Bewegung, stand den „Roten Zellen“ nahe, ehe er auf Distanz ging. Er stieß, wie es heißt aufgrund seiner behinderten Tochter, Forschungen zur Behindertenpolitik an und war später als einer der Ersten im Moskauer „Sonderarchiv“, als dort Anfang der Neunzigerjahre Quellen zur NS-Geschichte auftauchten. Gerne würde man also noch einen Aly lesen – einen, der seine Geschichte erzählt.DIRK WALTER

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