Geht liebevoll mit seinen Figuren um: Jon Fosse begleitet in „Vaim“ drei Männer durchs Leben. © JESSICA GOW/afp
Im Jahr 2025 einen Heimatroman vorzulegen, ist gewagt. Jon Fosse, Nobelpreisträger von 2023, tut das in „Vaim“ mit einer speziellen Nonchalance, mit der er auch seine drei männlichen Protagonisten durch ihr Schicksal wandeln lässt. Sie ist keine urbane Nonchalance, schon gar nicht die Lässigkeit eines Bonvivants; sie ist die Haltung eines heimatverbundenen In-sich-Ruhens, durch das man sogar die Zumutungen des Lebens stoisch hinnimmt. Wir Bayern würden Jargeir (eigentlich Geir), Elias und Olav alias Frank wahrscheinlich mit „boodschert“ charakterisieren – sympathisch, nicht allzu lebensklug und das totale Gegenteil von harten Hunden.
Vaim ist der norwegische Heimatort des mittelalten Ichs, das im Buch den Lesenden zuerst begegnet (es gibt drei verschiedene Ichs mit ihrer jeweiligen Perspektive). Fosse legt einen Kavalierstart in seinem heuer auch im Original erschienen Roman hin – um sofort hart abzubremsen. Diese Art von hinterkünftigem Erzähl-Humor wird das gesamte Buch bestimmen. Er ist nie laut, geht liebevoll mit den Menschen um, braucht Empfänger mit feinen Antennen und solche, die Langsamkeit aushalten. Deswegen versetzt uns der 1959 im norwegischen Haugesund geborene Dramatiker und Erzähler zurück ins 20. Jahrhundert. Es gibt zwar Motoren (für Schiffe; von Autos ist nie die Rede), sogar Heizkörper, an Handys und Internet ist nicht mal im Traum zu denken.
Das erste Ich treffen wir zunächst gar nicht in Vaim an, sondern in der Stadt Bjørgvin, die es im Urlaub mit seiner Schnigge gern besucht. All das erfahren wir aus dem Bewusstseinsstrom dieses Ichs. Kein Wunder also, dass wir es bestens kennenlernen werden. Es kommt kaum auf die Handlung an, die homöopathisch spannend ist. Unsere Aufmerksamkeit müssen wir aufs geduldige Spurenlesen in diesem Bewusstsein richten. Da ist das Rumgegrüble wegen des zweimaligen übel missglückten Nadel-und-Faden-Kaufs nur eine humoristische Heimatroman-Pirouette. Wichtiger ist die Schnigge – ein einmastiges, kleines Segelschiff.
Das Boot liegt Jargeir – seinen Namen erfährt die Leserin spät – sehr am Herzen: als Schifferl und weil es nach seiner Jugendliebe Eline benannt ist. Der Gedankenspaziergang führt folglich öfter zu jenem weiblichen Wesen, dem er sich, natürlich, nie offenbart hat und das früh aus Vaim verschwunden ist. Dort hat Jargeir nur einen Freund, Elias. Die Spannung erreicht ihren „Siedepunkt“ als Jargeir der echten Eline am Anleger von Sund auf Sator wieder begegnet. Jon Fosse, der uns Deutschen vor Jahrzehnten als Dramatiker bekannt wurde, liefert hierbei ein Gustostückl an erdiger Komödiantik ab; Bauerntheater, halt nun mit Fischern, Ladnerinnen und Handwerkern.
Dazu passt das gwappete Weib. Eline ist eine ländliche Cousine der städtischen Femme fatale. Sie braucht Jargeir, um von Insel und Ehemann Frank abzuhauen. Beide Männer ergeben sich in ihr Schicksal, genauer in den Willen der Frau. Das erfahren wir vom dritten Ich, nachdem der vernachlässige Freund Elias als zweites Ich ein rührendes (Gespenster-)Zwischenspiel geben durfte. Frank, der eigentlich Olav heißt, wurde von Eline, die eigentlich Josefine heißt, nicht nur diktatorisch umgetauft, er wurde außerdem vom Fleck weg geheiratet. Später von ihr verlassen – übrigens hatte er seine Shark ebenfalls „Eline“ getauft – und noch später, nach dem Tod Jargeirs, erneut von Eline gekrallt und nach Vaim geschleppt. Widerstand schwebte beiden Männern kurz durchs Hirn, aktiv wurden sie genauso wenig wie Tschechows berühmte Ich-kann-mich-nicht-entscheiden-Figuren. Immerhin sorgte Eline stets tipptopp für den Haushalt und sicherlich für anderes.
Der düpierte Olav überlebt und beerbt immerhin die starke Frau. Mit 75 kehrt er auf die Insel Sator in sein Elternhaus zurück. Vaim ist die Heimat der Gräber von Jargeir, Elias und Eline, die sich als Grabinschrift „Josefine“ wünschte. Olav zieht als Fazit, dass auf seinem Stein „Alles war wundersam“ stehen müsste, „aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es mit einem schlichten Kreuz getan sein wird“. Ja, die Namen haben es Jon Fosse angetan, er schreibt ihnen Magie zu. Die der Menschen können schillern, die von Örtlichkeiten nicht. In seinem tragikomischen Roman vertreten sie scheinbar Stabiles, Typisches, Sachliches wie „Der Anleger“, „Der Kolonialwarenladen“, „Das Bethaus“ und „Die Bucht“: die Heimat.SIMONE DATTENBERGER
Jon Fosse:
„Vaim“. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, 155 Seiten; 24 Euro.