Zwei Charaktere, eine Frau: Leonore (Malin Byström) überredet Kerkermeister Rocco (Tareq Nazmi) in der Inszenierung von Puppenspieler Nikolaus Habjan. © Werner Kmetitsch
Ein mitleidiger Blick, eine scheue Annäherung, schließlich reicht sie die Hand – eine Ermunterung: Und wenn du’s doch versuchst? Zwei Frauen, doch sie sind dieselbe. Die echte Leonore und ihr Puppen-Alter-Ego. Keine Persönlichkeitsspaltung, keine Schizophrenie, es sind zwei Aspekte, die sich während der großen Arie begegnen. Hoffnungslosigkeit und Optimismus, bis sich im schnellen Teil beide plötzlich synchron bewegen. Leonore ist eins mit sich selbst.
Man kann das als Nummer von der Psycho-Couch inszenieren oder so wie Nikolaus Habjan. Der Regisseur, Puppenspieler und Kunstpfeifer hat dieses Mal nur zwei seiner kunstvollen Klappmaulfiguren entworfen. Für Leonore, die sich als Fidelio in dieses Staatsgefängnis geschlichen hat, und für ihren dort inhaftierten, vom Tod bedrohten Mann Florestan. Vor allem aber hat Habjan einen Oldtimer ersetzt, der nun in der Musiktheaterschrottpresse gelandet ist. 55 Jahre lang vertraute die Wiener Staatsoper auf Otto Schenks „Fidelio“, von seiner geliebten (bis belächelten) Beethoven-Deutung war am Ende ohnehin nur noch die Kulissenhülle übrig. Trotzdem nahm man in Wien gewaltig übel. Der „Fidelio“ gilt in der Uraufführungsstadt als Heiligtum und als Festoper für alle Fälle. 1938 ließ sich Hermann Göring damit feiern, 1955 wurde die Staatsoper damit wiedereröffnet, zuletzt inszenierte Christoph Waltz das Stück am Theater an der Wien, Corona-bedingt nur für die Kameras.
Die Orthodoxen wüteten jedenfalls im Vorfeld. Doch Habjan ist ja anders gestrickt. Keine Revolution, wohl aber eine behutsame Modernisierung. Die gestelzten Originaldialoge hat Paulus Hochgatterer überschrieben. Ganz natürlich klingen die Sprechtexte nun, schauspielhaft gearbeitet. „Gutmensch“ wird einmal als Schimpfwort benutzt, da raunt es in der Gala-Gemeinde. Das Gefängnis ist dank Bühnenbildner Julius Theodor Semmelmann immer präsent. Manchmal öffnen sich die grauen Wände, etwa fürs holzvertäfelte Spießerzimmer von Gefängniswärter Rocco. Man sieht auch eine monumentale Zellenarchitektur. Die geistige Enge, das Bedrückende wird augenfällig, am Ende wird eine Leonoren-Statue sichtbar. Gattenliebe als Monument in Metall, wer will, kann hier Kitsch-Alarm auslösen.
Habjan ist am besten in den intimen Momenten, auch in der Aufspaltung Florestans. Der jüngere, noch intakte (singende) Mann begegnet dem ausgemergelten Puppen-Häftling. Vielschichtige, sinnfällige Szenen sind das, auch in der Interaktion mit der doppelten Leonore. Problematisch wird es in der großen Dimension, da driftet der Abend ins Arrangement. Auch neigt Habjan zur Verdoppelung: Wenn Roccos Tochter, die in Fidelio verliebte Marzelline, von Hoffnung singt, sprießen die Video-Blüten. Alles spielt im undefinierbaren Heute, der Minister lässt sich vom gierigen Pressetross begleiten, szenisch nicht unbedingt der letzte Schrei.
Dennoch eine grundehrliche Aufführung, die sich nicht – wie bei „Fidelio“ üblich – im Konzeptkrampf windet. Naiv, manchmal im besten, manchmal im weniger guten Sinne. Und mit Rocco im Mittelpunkt, der gegen die Staatsmacht über sich hinauswächst – was man hier eindrücklich sieht und hört. Tareq Nazmi war vielleicht noch nie so gut. Sein Bass-Ton hat sich geschärft, jede Phrase legt er auf die Goldwaage. Ein deklamatorisch reicher, auch am Lied geschulter Gesang. Eine weitere Überraschung: Man kann den Bösewicht Pizarro tatsächlich singen. Christopher Maltman gerät nicht ins vokale Grimassieren, sondern gestaltet mit reichem, virilem Bariton-Material. An den verhangenen Sopran-Ton von Malin Byström muss man sich gewöhnen, ihre Leonore funktioniert eher als Gesamtkunstwerk. David Butt Philip (Florestan) verschafft sich mit schmalem Tenorheldenstrahl Gehör und kann nur schwer gegen sein Puppen-Alter-Ego anspielen.
Ovationen gibt es schon vor Beginn. Franz Welser-Möst, einst Musikdirektor, wird wie der verlorene Sohn begrüßt. Dass der „Fidelio“ stilistisch auseinanderdriftet, ist bei ihm kaum zu hören. Schon der Singspiel-Teil entfaltet Gewicht. Das sehnige Pathos, die fein ausgehörten Korrespondenzen unter den Instrumentengruppen, die Tempo-Relationen, all das überzeugt. Weniger die Unschärfen im Staatsopernorchester, manches tönt nach G’schlampertem von der Donau oder nach Repertoire-Alltag. Als Welser-Möst im Finale den Turbo zuschaltet, scheinen alle überrascht. Fast ungetrübter Jubel, der Applaus klingt auch nach Erleichterung.
Weitere Vorstellungen
am 19., 22., 27. und 30. Dezember; Stream ab 19.12. unter play.wiener-staatsoper.at.