Überraschend aktuell

von Redaktion

Das Resi feiert den 100. von Tankred Dorst

„Die Decke derer, die ihn kennen, ist dünner geworden“, beschreibt es Intendant Andreas Beck in seiner Eröffnungsrede treffend. Tankred Dorst, ein Dramatiker von Weltruf, lebte lange Jahre in München, ist seit 2017 auf dem Friedhof Bogenhausen begraben und bescherte den Theatern auf beiden Seiten der Maximilianstraße schön abwechselnd manche umjubelte Uraufführung. Dass man den Mann angesichts dieser Meriten nur im Bayerischen Staatsschauspiel würdigt und sonst nirgendwo in der Stadt, verwundert. Denn dass die einst viel gespielten und von renommiertesten Regisseuren inszenierten Stücke Dorsts nicht an Aktualität verloren haben, beweist die von Cornelia Maschner schwungvoll arrangierte szenische Lesung von Tankred Dorsts böser Komödie „Herr Paul“ in der „Schönen Aussicht“ des Residenztheaters.

Herr Paul (Manfred Zapatka) und seine Schwester Luise (Rita Russek) leben im großzügigen Hintergebäude eines Stadthauses, einer ehemaligen Seifenfabrik. Luise sorgt für die nötigen Sozialkontakte, während Paul das Haus nicht verlässt. „Das hat Paul eben nicht nötig“, preist ihn die Schwester stolz. Klug und belesen ist der Herr Paul nämlich, trotz der Stubenhockerei. Eine Art „Oblomow“ der Gegenwart, mit 18 Semestern Nationalökonomie im Kopf. Bis der junge Herr Helm (Nicola Mastroberardino) seine Kreise stört. Er hat das alte Gebäude geerbt und will es mit dem eiswürfelkalten Finanzier Schwarzbeck (Robert Dölle) renovieren, um einen möglichen Profit maximieren zu können. Paul passt das – wenig überraschend – nicht. Sogar Helms Freundin Lilo (Linda Blümchen) wagt Bedenken.

Zwei Männertypen in der alten Seifenfabrik, die Trägheit und Tatendrang symbolisieren, passiv anmutende Sesshaftigkeit und fiebrig-unruhige Aufbruchsstimmung, aber auch Kulturgut und Tradition sowie neumodische Ignoranz. Aber so simpel ist das letztlich natürlich alles nicht, wie immer bei Dorst. Das von allen Ensemblemitgliedern wunderbar pointiert vorgetragene Stück hat trotz der für diesen Abend deutlich gestrafften Fassung kein bisschen an Charme, Witz und Originalität eingebüßt. Sondern macht vor allem große Lust auf die (Wieder-)Entdeckung dieses großen und gerade heute wieder überraschend aktuellen Autors. „Theater lebt immer in seiner Zeit“, sagte Beck eingangs. Es ist eine Zeit für Dorst, zweifellos.ULRIKE FRICK

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