„Sie haben Krebs.“ Ein Satz, der früher oft einem Todesurteil gleichkam. Heute überleben immer mehr Patienten – dank rasanter Fortschritte in Diagnose und Therapie. Betroffene leiden aber nicht nur körperlich. Onkologe Prof. Wolfgang Hiddemann erlebt das jeden Tag als Direktor der Medizinischen Klinik III des Klinikums der Universität München. Vor vielen Jahren hat er den Krebshilfe-Verein „Lebensmut“ gegründet – um eine Lücke zu schließen. Wir haben mit ihm über Menschlichkeit in der Medizin gesprochen.
-Herr Professor Hiddemann, Sie sind seit mehr als 40 Jahren Arzt. Die Krebsmedizin hat seither enorme Fortschritte gemacht. Welches sind die größten?
Es hat riesige Fortschritte gegeben, auf verschiedenen Gebieten. Wir können heute Krebserkrankungen viel besser diagnostizieren. Damals gab es zum Beispiel noch keine Computertomografen oder Ultraschall. Eine echte Revolution ist auch die personalisierte Medizin: Sie erlaubt es, ein molekulares Profil eines Tumors zu erstellen und zu schauen, welche Gene verändert sind. Gegen manche haben wir bereits Medikamente, etwa beim Darm- und Lungenkrebs. Patienten mit fortgeschrittenem Darmkrebs überleben heute doppelt so lange wie vor fünf, sechs Jahren. Riesensprünge gab es auch bei den akuten Leukämien, meinem Spezialgebiet. Mitte der 70er sind fast alle unserer Patienten gestorben, das Langzeitüberleben lag bei unter zehn Prozent. Heute können wir 40 bis 45 Prozent der Patienten langfristig heilen.
-Das ist enorm! Dennoch fühlen sich viele Menschen den Hightech-Apparaten ausgeliefert…
Ein wichtiger Punkt. Wir haben in der Klinik daher ein Leitmotiv: „Hochleistungsmedizin und Menschlichkeit“. Wenn ich einen Vortrag dazu halte, frage ich: Was verstehen Sie unter Hochleistungsmedizin? Als Antwort kommt stets: „Diese furchtbaren Apparate!“ Das ist genau nicht der Fall: Hochleistungsmedizin ist nicht in erster Linie eine Apparatemedizin! Gemeint ist vielmehr eine Medizin, die auf höchstem Niveau betrieben wird; von Menschen, die wissen, wann diese Apparate sinnvoll sind – und wann nicht. Es geht also um eine Höchstleistung von Ärzten und Pflegekräften für das Wohl der Patienten. Gute Medizin ist nicht gleich Apparatemedizin. Sie nutzt Apparate aber, um damit eine gute Diagnostik oder Therapie zu machen. Damit ist auch unsere Verantwortung als Ärzte größer geworden. Es gibt immer Grenzbereiche, wo man nicht weiß: Soll ich einen Patienten noch auf eine Intensivstation legen oder macht es keinen Sinn mehr. Das lässt sich nicht immer abschätzen. Es spielt zudem nicht nur die medizinische Einschätzung eine Rolle, sondern auch die Einstellung des Patienten: Wir machen nichts gegen seinen Willen. Dazu ist es aber wichtig, einen intensiven Dialog zu führen.
-Gespräche kosten Zeit. Daran mangelt es oft.
Natürlich stehen wir heute unter einem deutlich größeren Zeitdruck als noch vor 40 Jahren. Aber wenn man eine gute Medizin machen will, sind diese Gespräche mit Patienten enorm wichtig – dafür muss man sich die Zeit nehmen und das tun wir auch!
-Gelingt das immer?
Fast immer. Ein Beispiel: Gibt es bei der Visite eine kritische Situation, ich bin aber gerade unter Zeitdruck, sage ich das den Patienten auch. Sie haben Verständnis, dass es akut nicht geht – wenn man sich dafür ein paar Stunden später die Zeit nimmt. Dann kann man mit einem Patienten, in einer entspannten Situation, wirklich mal ans Eingemachte gehen; also kritische Dinge besprechen und dabei auch selbst Emotionen zulassen.
-Haben manche Ärzte genau davor Angst?
Jeder Mensch ist unterschiedlich eingestellt. Wenn sich jemand für die Onkologie entscheidet, muss er aber die Bereitschaft mitbringen, sich mit Patienten zu beschäftigen und zuzuhören. Sonst wird er kein guter Onkologe – das ist eine absolute Voraussetzung.
-Warum haben Sie sich für die Krebsmedizin entschieden?
Zunächst war das reiner Zufall. Auf der Suche nach einer Doktorarbeit bin ich zu einem Professor gekommen, der neue Konzepte zur Leukämie erforscht hat. Ich hatte aber von Anfang an das Bedürfnis, die Menschen kennenzulernen, die bei uns behandelt werden. Ich möchte wissen: Wie ist ihre familiäre Situation, wie sind ihre Werte, wie gehen sie mit der Krankheit um?
-Hat das auch eine Rolle für die Gründung des Vereins „Lebensmut“ gespielt, der Patienten auch psychologisch unterstützt?
Ja, natürlich. Als ich in verantwortungsvollere Positionen kam – Oberarzt, später Chefarzt am Klinikum Göttingen –, habe ich gemerkt, dass die menschliche Unterstützung von Patienten deutlich komplexer ist, als sich das in unserem Gesundheitssystem abbildet. In Göttingen hatten wir das Glück, sehr eng mit der Akademie für Ethik in der Medizin zusammenzuarbeiten. Zum Beispiel bei einem Patientenforum. Wir haben den Dialog gesucht, weil wir das Gefühl hatten: Wir Ärzte haben eine bestimmte Sicht, aber die Sicht der Patienten kennen wir nicht besonders gut. Dabei ist diese extrem wichtig. Als ich nach München kam, hatte ich das Gefühl, wir müssten versuchen, noch mehr zu tun. Damals und bis heute wird die psychoonkologische Unterstützung im stationären Bereich nicht von den Kostenträgern finanziert. Daher haben wir Lebensmut gegründet.
-Als Klinikleiter werden Sie demnächst in den Ruhestand gehen. Was hat Sie Ihre Arbeit über das Leben gelehrt, was über das Sterben?
Es hat mich gelehrt, dass man das Leben schätzen muss. Und dass man neben der Arbeit auch anderes wertschätzen muss. Beziehungen, Partnerschaft, Kinder, aber auch ganz andere Freuden. Ich zum Beispiel gehe gern in die Berge und versuche, mir auch die Zeit dafür zu nehmen; also auch die kleinen Dinge im Leben zu schätzen und nicht primär darauf achten, wie ist meine Karriere und wie viel Geld man verdient – das sind alles Dinge, die sind nicht so wichtig. Was das eigene Sterben angeht: Ich glaube, es ist wichtig, dass man auch den eigenen Tod als Bestandteil des Lebens akzeptieren kann – gerade, wenn man solche Gespräche mit Patienten führt. Da kann man von Patienten sehr viel lernen. Es ist für mich auch ein gutes Erlebnis zu sehen, wenn ein Patient – vielleicht auch mit unserer Hilfe – gut sterben kann; dass er also keine Schmerzen hat, seine Leiden erträglich sind und er sein Schicksal annehmen kann. Die Gespräche, wenn es aufs Ende zugeht, sind daher etwas, das ich nicht missen möchte.
-Gibt es auch schöne Momente, an die Sie gern zurückdenken?
Absolut. Wir hatten mal vor sieben oder acht Jahren eine Patientin mit akuter Leukämie. Es gab furchtbare Komplikationen, die Haut hat sich in großen Blasen abgelöst. Wir haben gedacht, wir können nichts mehr tun. Wir kamen dann aber zu dem Schluss, dass wir eigentlich nichts zu verlieren hatten. Sie würde sterben, wenn wir die Leukämie nicht behandeln. Dieser Frau bin ich vor einem Jahr wieder begegnet. Sie ist geheilt, ihr geht es gut – das war natürlich ein tolles Erlebnis. Das ist nicht das einzige, aber ein besonders dramatisches.
-Wie ist es eigentlich um die menschliche Seite in der Nachsorge bestellt?
Da hat sich eine Menge getan. Wenn ein Mensch eine solche Erkrankung überstanden hat, ist er oft in gewisser Weise traumatisiert: Da ist die Angst, kommt die Krankheit zurück? Wie kann ich mich wieder ins Leben integrieren, wie kann ich wieder berufstätig werden? Deshalb bietet Lebensmut auch ambulante Sprechstunden an – damit Menschen weiter betreut werden.
-Gibt es auch Angebote speziell für Ältere?
Bislang nicht. Aber bei Lebensmut gibt es natürlich keine Altersgrenze, jeder kann kommen! Ältere Menschen haben aber oft andere Probleme, die mehr in sozialer Einsamkeit liegen oder der Frage: Wie kann ich versorgt werden? Da gibt es eine riesige Lücke, die wir mit Lebensmut aber nicht decken können. Dazu reichen unsere Mittel einfach nicht. Das ist ein Problem, bei dem ich die öffentliche Diskussion vermisse. Wir haben in der Klinik häufiger die Situation, dass ein älterer Mensch eigentlich nach Hause dürfte, sich aber noch nicht selbst versorgen kann. Dann liegt er „nur“ aus einer sozialen Indikation in einer Uniklinik. In der geriatrischen, onkologischen Nachsorge müsste viel mehr getan werden.
-Zum Thema „Medizin und Menschlichkeit“ werden Sie auch beim Krebs-Infotag von „Lebensmut“ sprechen…
Das ist mir persönlich wichtig: Eine Medizin ohne Menschlichkeit ist nicht gut. Ich mache eine ziemlich klare Trennung zwischen einem Mediziner und einem Arzt. Der Mediziner ist sozusagen derjenige, der die Apparate beherrscht. Aber der Arzt ist der, der primär den Patienten im Blick hat.
Das Interview führte Andrea Eppner.
Krebs-Informationstag Wer den Arzt selbst erleben will, hat am Samstag, 16. September, die Gelegenheit: Hiddemann hält den Eröffnungsvortrag (9 Uhr, Hörsaal III) beim Krebs-Informationstag im Klinikum Großhadern in München (Marchioninistraße 15, Hörsaaltrakt). Von 9 bis 17 Uhr können sich Interessierte dort kostenlos in Vorträgen und an Ständen informieren. Programm: www.krebsinfotag-muenchen.de. Anmeldung erbeten per E-Mail an info@krebsinfotag-muenchen.de oder Tel. 089/4400-74918.