Menschenwürde bis zur letzten Sekunde: Die Palliativmedizin will unheilbar Kranken und auch deren Angehörigen unnötiges Leid ersparen, ein berührendes Interview mit Privatdozent Marcus Schlemmer. Er ist Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin im Krankenhaus Barmherzige Brüder in München. Dort leitet er die größte Palliativstation Deutschlands mit 32 Betten.
-Provokant gefragt: Ist eine Palliativ-Station eine Sterbestation?
Das möchte ich klar verneinen! Auf unserer Palliativ-Station versuchen Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter die Nöte, Ängste und Symptome der Patienten zu lindern, und dann können wir die Hälfte der Patienten wieder entlassen. Es geht also um die Verbesserung von Symptomen, die durch Erkrankungen hervorgerufen worden sind. Die meisten, die zu uns kommen, haben Krebs. Wir behandeln aber auch Patienten mit weit fortgeschrittenen Herz- und Lungenerkrankungen.
-Wie behandeln Sie diese?
Wir versuchen möglichst schnell durch Medikamente, die wir den Patienten geben, Linderung zu erreichen. Manchmal stellen wir fest, dass alleine das Weglassen von manchen Medikamenten den Patienten hilft. Es ist ebenfalls wichtig, immer wieder nachzuschauen, ob sich etwas verbessert hat. Und das nicht erst nach fünf oder zehn Stunden, sondern nach fünf oder zehn Minuten.
-Was genau bedeutet eine angemessene Schmerzversorgung?
Das ist eine Frage, die immer wieder auftaucht. Ich antworte den Patienten dann: „Wir werden es nicht schaffen, Sie schmerzfrei zu bekommen. Aber wir werden es schaffen, die Schmerzen so zu lindern, dass Sie damit gut leben können.“ In der Regel können wir die Symptome so weit verbessern, dass die Patienten meist nach etwa zehn Tagen nach Hause oder in eine Pflegeeinrichtung gehen können. Manche überweisen wir aber auch an ein Hospiz.
-Sie kümmern sich also auch darum, was mit dem Patienten nach dem Aufenthalt bei Ihnen passiert?
Das ist ein wichtiger Aspekt der Palliativmedizin. Gleich am ersten Tag, wenn der Patient kommt, findet ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter statt. Dann stehen Fragen im Raum wie: „Was wünschen Sie sich? Was sollen wir planen? Wollen Sie später wieder nach Hause oder könnten Sie sich auch vorstellen, in ein Pflegeheim zu ziehen?“
-Wann ist der Zeitpunkt gekommen, einen Platz bei Ihnen anzufragen?
Patienten sollten sich frühzeitig an uns wenden. Zum einen stellen wir fest, dass es dann oft gar nicht zu stärkeren Schmerzen kommt. Weiterhin lässt sich so die Lebensqualität verbessern. Am einfachsten ruft man unter 089/17972916 an. Klassischerweise melden die Hausärzte so ihre Patienten für den stationären Aufenthalt an. Es dürfen aber auch Angehörige anrufen. Wir haben eine Warteliste, aber die Wartezeit beträgt nur wenige Tage. Entscheidend ist die medizinische Dringlichkeit.
-Sagen Sie auch Nein?
Wir haben tatsächlich öfters Anfragen von Patienten, die nicht auf eine Palliativ-Station passen. Das klärt sich aber beim ersten Anruf. Wir nehmen nur Patienten mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen. Außerdem müssen sie ein Symptom haben, das kann körperlich oder seelisch sein. Es muss also etwas geben, bei dem wir tatsächlich helfen können.
-Wie stark spielt die psychische Gesundheit eine Rolle?
Wir glauben, Menschen sind eine Einheit aus Leib und Seele. Deshalb kann man körperliche Leiden von seelischen Leiden nicht trennen. Viele Patienten haben große Sorgen, wie es weitergeht. Was wird kommen, wenn sie mal stärkere Schmerzen haben? Und natürlich spielt die Sorge um die, die am Ende zurückbleiben, nämlich um die Angehörigen, eine große Rolle.
-Gibt es oft mehr Fragen als Antworten?
Ich behaupte, dass es auf die meisten Fragen auch Antworten gibt. Wir verstehen uns als diejenigen, die sagen: Wir gehen nicht weg. Und wenn ihr glaubt, eine Mauer nicht alleine überwinden zu können, versuchen wir, diese mit euch zu umgehen – oder eine Tür hindurch zu finden. Ich glaube, es ist eine große Qualität der Palliativmedizin, zu sagen, wir halten das mit euch aus, wir können eure Nöte lindern. Aber natürlich gibt es Fragen, die wir nicht beantworten können.
-Welche Qualitäten hat die Palliativmedizin noch?
Sie bedeutet auch eine große Sicherheit. Wir versuchen Patienten Schutz zu geben. Menschen sollen nicht Situationen ausgeliefert sein, die sie nicht wollen.
-Wissen die Patienten immer, was sie wollen?
Selbst sehr schwer Kranke haben ein gutes Gefühl für ihren Körper und dafür, wie ernst ihre Situation ist. Auch wissen sie die offene Kommunikation, die wir pflegen, zu schätzen – selbst wenn wir mit ihnen über traurige Dinge sprechen. Ich höre nicht selten, dass ein Patient zu mir sagt: „Sie sind der Erste, der mit mir so offen darüber spricht, dass ich möglicherweise sterben werde. Das ist aber schon lange auch mein Gefühl.“ Das andere große Feld sind die Nöte der Angehörigen.
-Tun sich Angehörige schwer, ihre Lieben bei Ihnen, sagen wir, abzugeben?
Sie müssen sie ja nicht abgeben. Wir haben auch keine „normalen“ Krankenhaus-Besuchszeiten. Außerdem haben wir ein Zimmer, in das sie sich mal alleine zurückziehen können – wenn ihnen alles zu viel wird. Es ist auch wichtig für Patienten, die wissen, dass sie nicht mehr lange leben, dass sie nicht von ihren Angehörigen abgeschnitten werden. Im Gegenteil: Man sollte versuchen, dass sie mit ihnen viel Zeit verbringen.
-Haben die Angehörigen nicht manchmal das Gefühl, dass sie dann versagt haben?
Nein, und wenn, versuchen wir, ihnen dieses Gefühl zu nehmen. Vielen ist nicht klar, was das für eine große körperliche und psychische Belastung ist, wenn sie einen Menschen lieben, der so schwer krank ist. Sie müssen sich immer um ihn kümmern und vor allem mit ansehen, wie er leidet. Es gibt Angehörige, bei denen geht diese unglaubliche Anstrengung bis zur Selbstaufgabe. Deswegen müssen wir allen Angehörigen Mut machen und ihnen sagen, dass wir es gut finden, wenn sie sich an uns wenden. Das hat nichts mit Abschieben, Weggeben oder gar mit Versagen zu tun.
-Die meisten Menschen wollen lieber daheim sterben. Welche Hilfen gibt es?
Wenn der schwerkranke Patient wieder nach Hause will, ist die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung, kurz SAPV, in der Stadt München eine segensreiche Versorgung. Hier kommt ein Team aus Palliativ-Ärzten und -Pflegekräften zu den Kranken nach Hause und versucht, die Schmerzen zu lindern. Das wird von den Krankenkassen bezahlt. Es gibt auch SAPV-Teams im Umkreis von München. Aber ehrlicherweise muss man sagen: Je weiter man von München weg wohnt, desto schlechter ist diese Versorgung flächendeckend. Dort sind die Angehörigen mehr gefordert. Aber auch hier können Therapeuten oder ehrenamtliche Hospizhelfer vorbeikommen.
Das Gespräch führte Angelika Mayr.