Es ist ein heikles Thema, über das kaum einer reden will: Blasenschwäche. Dabei lohnt es sich, mutig zu sein und aktiv zu werden, rät Prof. Ricarda Bauer in unserem Interview. Sie leitet die Harninkontinenz-Sprechstunde am Klinikum Großhadern der Universität München.
-Inkontinenz ist immer noch ein Tabu. Warum?
Wer redet gern darüber, dass er sich in die Hose pieselt? Man spricht über Fußpilz und Sodbrennen – aber Inkontinenz ist peinlich. Es herrscht allerdings nicht nur Sprachlosigkeit in der Familie, sondern auch Ärzten gegenüber.
-Ärzte dürfen doch nichts weitererzählen!
Das stimmt. Aber erst hat man allen Mut zusammengenommen – und dann reagiert der Arzt oft ablehnend oder nach dem Motto „Der Blutdruck ist viel wichtiger“. Das schreckt ab. Zu mir kommen viele Patienten, die sagen: „Mein Leben ist zerstört, so möchte ich nicht mehr weiterleben.“ Das zu hören ist schrecklich.
-Ab wann spricht man konkret von Inkontinenz?
Laut der Deutschen Kontinenz Gesellschaft ist eine Harninkontinenz jeglicher unwillkürliche Urinverlust. Es gibt aber viele Ausprägungen, die den Patienten mal mehr und mal weniger belasten. Für manche sind fünf Tropfen am Tag ein Drama. Andere tragen fünf Einlagen und finden alles harmlos. Das ist individuell. Deswegen gibt es keine bestimmte Menge, ab wann man etwas tun sollte. Aber: Wenn die Lebensqualität beeinträchtigt ist, muss man etwas tun.
-Wie hoch stehen die Chancen, Blasenschwäche erfolgreich zu behandeln?
Beim größten Teil der Patienten können wir zumindest eine deutliche Verbesserung erzielen. Leider ist es nicht immer möglich, das Problem komplett zu beseitigen. Aber vielen Patienten ist schon geholfen, wenn sie statt fünfmal nur einmal nachts auf die Toilette müssen. Und wenn sie diese auch rechtzeitig erreichen! Dann können sie wieder am Leben teilnehmen.
-Verlieren Patienten sonst den Kontakt zur Außenwelt?
Letztens hat ein 80-Jähriger zu mir gesagt: „Bei mir im Seniorenheim leben so viele inkontinente Frauen. Die wissen gar nicht, was man alles machen kann!“ Damit hat er Recht. Viele Ältere gehen bei einer Inkontinenz nicht mehr aus dem Haus. Sie haben Angst – und sperren sich quasi ein.
-Dabei sind Senioren besonders häufig betroffen. Warum eigentlich?
Wie alle anderen Dinge im Leben wird auch die Blase irgendwann schlechter. Die Inkontinenz hat aber viele Faktoren. Auch Veränderungen, die im Gehirn stattfinden, spielen hier eine Rolle. Damit meine ich nicht nur die Veränderungen bei Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer, sondern ebenso die hormonellen, etwa in den Wechseljahren. Auch OPs, Bestrahlungen und diverse Medikamente können eine Inkontinenz auslösen – oder verstärken. Dazu beitragen kann zudem das sogenannte metabolische Syndrom, also eine Kombination verschiedener Risikofaktoren wie Bauchfett, Bluthochdruck, erhöhte Blutzucker- und Blutfettwerte.
-Welche Arten der Inkontinenz gibt es?
Es gibt zwei Hauptformen: Bei der Belastungsinkontinenz verliert man während einer körperlichen Belastung Urin, und das ohne Harndrang. Bei der Dranginkontinenz indes bekommt der Patient wie aus dem Nichts heraus starken Harndrang – und wenn er Pech hat, schafft er es nicht mehr auf die Toilette. Dazu kommt die Mischinkontinenz, wenn man also beides hat. Letztere haben meistens ältere Frauen. Männer haben eher eine Dranginkontinenz.
-Wie stellt der Arzt fest, unter welcher Form man leidet?
Er fragt zunächst einmal: Seit wann stimmt etwas nicht? Gab es etwas Auslösendes wie eine OP oder neue Medikamente? Wann kommt es zum Urinverlust? Hier hilft es, wenn der Patient Tagebuch darüber führt: Wie viel und wann trinkt er? Und: Wann und wie viel Wasser musste er dann lassen?
-Wie können Sie den Patienten weiterhelfen?
Zuerst versuchen wir, dass sich der Patient selbst hilft: Sowohl bei der Drang- als auch bei der Belastungsinkontinenz ist die Physiotherapie wichtig. Ich bin ein großer Fan davon! Der Patient trainiert hier gezielt den Beckenboden. Kann er den gut kontrollieren, kann er auch den Urin besser halten.
-Was können Betroffene noch tun?
Verteilen Sie Ihre Trinkmenge gleichmäßig über den Tag. Gehen Sie vor dem Schlafen nochmals auf die Toilette und trinken Sie in den letzten drei Stunden davor nichts mehr. Generell sollte man Reizstoffe wie Nikotin, Koffein und scharfe Gewürze meiden. Auch ein Gewichtsverlust hat bei Übergewicht einen Einfluss. Wenn man nur fünf Prozent abnimmt, kann man seine Dranginkontinenz-Anfälle um 70 Prozent reduzieren.
-Auch demente Patienten sind inkontinent, können sich selbst aber nicht mehr helfen …
Die bekommt man leider aber auch nur sehr schwer komplett trocken. Allerdings hat sich die Methode bewährt: wenn man sie zu bestimmten Zeiten auf die Toilette schickt. Ein Beispiel: Müssen sie alle zwei Stunden und kommt es dabei häufig zum Urinverlust, schickt man sie nun alle 1,5 Stunden. Die Patienten kommen also nicht bis an diesen Punkt, an dem es zu spät ist – sie gehen vorher. Das Problem: Sie brauchen stets jemanden, der mit aufpasst. Das geht mit familiärer Unterstützung, in einem Heim klappt das oft viel schlechter.
-Wann setzen Sie Medikamente ein?
Nur wenn die genannten Tipps nicht helfen oder die Patienten zu wenig machen. Medikamente mit der Wirkstoff-Gruppe der Anticholinergika beruhigen die Blase und erhöhen deren Aufnahmefähigkeit. Allerdings haben sie Nebenwirkungen: So kann sich die Hirnleistung dadurch einschränken. Ebenso möglich sind verschwommenes Sehen und Mundtrockenheit. Als Alternative gibt es den Wirkstoff Mirabegron: Er entspannt die Blase, erhöht ihre Kapazität und lindert so die Beschwerden. Mirabegron ist günstiger in Bezug auf Mundtrockenheit und das Sehen. Es kann aber zu Nebenwirkungen am Herzen führen. Als dritte Möglichkeit kann man Botulinumtoxin, kurz Botox, in die Blase spritzen. Das beruhigt direkt die Blase.
-Und welche operativen Möglichkeiten gibt es?
OPs empfehle ich erst, wenn nichts anderes mehr hilft. Bei Frauen mit einer Belastungsinkontinenz greife ich meist auf die Band- oder Schlingenoperation zurück. Hier lege ich ein Kunststoffband unter die Harnröhre, um so den Beckenboden zu unterstützen. Ist Frau dann körperlich aktiv, verliert sie weniger Urin. Bei Männern gibt’s ebenfalls Bandoperationen oder den künstlichen Schließmuskel. Ich lege eine Manschette um die Harnröhre, die mit Flüssigkeit gefüllt ist und somit die Harnröhre verschließt. Wenn man Wasser lassen möchte, drückt man auf eine Pumpe im Hodensack, dabei entleert sich die Manschette und der Patient kann ganz normal die Blase entleeren. Danach läuft die Flüssigkeit automatisch wieder in die Manschette zurück – und die Harnröhre ist wieder „dicht“.
Das Gespräch führte Angelika Mayr.