„Ich will in Würde altern“

von Redaktion

Viele schaffen nicht, was sich jeder wünscht: alt werden in Würde. Weil zum Beispiel die Rente nicht reicht, um das Alltagsleben zu sichern. Maria Zlotowski ist eine dieser Seniorinnen. Hier ist ihre Geschichte – und ein kleines ABC, was Altern in Würde bedeutet.

VON SUSANNE WITTLICH

Maria Zlotowski war glücklich in ihrem Leben. Doch das änderte sich schlagartig, als sie ihren Rentenbescheid erhielt: 811 Euro gewährte ihr der Staat pro Monat – nach einem Leben voller Arbeit. „Ich dachte, die haben sich verrechnet“, sagt die 67-Jährige aus München heute.

Aber dem war nicht so. Niemand hatte sich verrechnet, nur Maria Zlotowski, sie hatte mit mehr gerechnet. 40 Jahre lang hatte sie schließlich als Buchhalterin gearbeitet. Zugegeben: Die letzte Zeit war schwierig gewesen; ihr Arbeitgeber, eine Spedition, kämpfte mit wirtschaftlichen Problemen, das Führungspersonal gab den Druck an die Belegschaft weiter – und Maria Zlotowski wurde irgendwann krank, sie musste dann sogar vorzeitig in Rente gehen.

Bis dahin konnte Maria Zlotowski eine lückenlose Erwerbstätigkeit nachweisen, zudem hatte sie zwei Töchter großgezogen. Unterm Strich kam trotzdem nur eine Mini-Rente heraus. „Das schaffen wir schon“, ermunterte sie ihr Lebenspartner damals, der finanziell gut dastand. Doch dann starb dieser Partner überraschend. Und Maria Zlotowski, sie blieb allein zurück.

Wegen eines Formfehlers im Testament erbte sie, die langjährige Gefährtin, nichts – und hatte plötzlich so wenig Geld, dass es nie für einen ganzen Monat reichte. Egal wie gut sie auch kalkulierte. Es war aussichtslos.

„Mit Anfang 60 war mein Leben von einem Tag auf den anderen auf null gesetzt. Und in meinem Alter hatte ich keine Chance mehr, aus eigener Kraft die Situation zu verändern“, erzählt Maria Zlotowski heute. Sie ist eine zarte Frau, und während sie spricht, steigen ihr Tränen in die Augen.

Altern in Würde? Das würde Maria Zlotowski auch gern. Aber wie? „Würde, was ist das eigentlich?“, fragt sie sich dann oft.

Auch der Hirnforscher Gerald Hüther beschäftigt sich schon lange mit dieser Frage, jüngst in seinem neuen Buch. Es heißt „Würde: Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft“. Es ist längst ein Bestseller.

Hüther geht davon aus, dass Menschen, die ihre eigene Würde als inneren Kompass entdecken, auch andere würdevoll behandeln. Doch im Gegensatz zu den „Vätern“ unseres Grundgesetzes hält der Wissenschaftler Würde nicht für angeboren. Allerdings, so sagt er, liege bereits im kindlichen Gehirn ein neuronales Muster vor, in dem Informationen darüber gespeichert sind, wie die Welt sein sollte.

Schon dem Neugeborenen hilft dieses Gespür beim Überleben: Es weint, sobald etwas nicht stimmt – sobald etwas dem Menschen nicht mehr würdig ist. Diese vorgeburtlich geprägte Fähigkeit geht aber mit der Erziehung verloren. Die Kinder erfahren nicht selten, dass sie als Objekt behandelt werden – und betrachten als Folge auch andere Menschen wie Objekte.

Die neuronale Verschaltung, in der das Empfinden für ein würdevolles Verhalten hinterlegt ist, wird somit nach und nach überschrieben. So weit, so schlecht. Die gute Nachricht ist aber: Der Mensch kann, im Unterschied zum Tier, ein Leben lang lernen. Und so ist es möglich, jene Netzwerke zu reaktivieren, die in den tiefer liegenden emotionalen Bereichen des Gehirns abgespeichert sind. Also jene Netzwerke, in denen das unterdrückte Gefühl für die eigene Würde schlummert.

„Ich möchte erreichen“, sagt Experte Hüther, „dass die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und allen Bereichen der Gesellschaft mit der Frage konfrontiert werden, wie sie das, was sie tun, mit ihrer Würde als Mensch vereinbaren können.“ Dann ändere sich alles: Das Leben werde „spürbar freudvoller, liebevoller und würdevoller“.

Für Maria Zlotowski besserte sich die Situation, als ihr ein Sozialberater von dem Seniorenhilfeverein LichtBlick erzählte. Die private Initiative mit Sitz in München will armen Rentnern ein Leben in Würde ermöglichen. „Menschen, die eine Lebensleistung erbracht und unser Land mit aufgebaut haben, verdienen es, mit Respekt behandelt zu werden“, sagt LichtBlick-Gründerin Lydia Staltner. Senioren in Not, die sich an den Verein wenden, erhalten unbürokratische Unterstützung – und Wertschätzung. So stattet der Verein ältere Menschen nicht etwa mit abgelegten, gebrauchten Dingen aus. Nein! Sie sollen zum Beispiel neue Schuhe bekommen, die auch passend sind für die Füße, die sie durch ein langes Leben getragen haben. Und auch eine anständige Matratze. „Wertschätzung bedeutet auch Wertigkeit“, erklärt Staltner.

Maria Zlotowski hat der Verein kleinere Einrichtungsgegenstände für die neue Wohnung finanziert. Fast noch wichtiger sind für die Rentnerin aber die Veranstaltungen, die LichtBlick initiiert: gemeinsam wandern, ins Theater gehen, in einer Gaststätte ein Essen aussuchen dürfen. „Dann fühle ich mich wie eine Königin“, sagt Maria Zlotowski. Sie sagt auch: „Mir hilft die Gemeinschaft mit anderen, den Kopf wieder höher zu nehmen.“ Das zum Beispiel bedeutet Altern in Würde.

Es sind Initiativen wie diese, über die Wissenschaftler Hüther sagt, sie seien „ein Segen“ für „die Wiederentdeckung unserer Verantwortung“. Maria Zlotowski nennt es einfach Lichtblicke – Lichtblicke in einer oftmals dunklen Zeit.

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