Voll im Leben trotz MS

von Redaktion

Wer „Multiple Sklerose“ hat, wird auf jeden Fall irgendwann im Rollstuhl landen? Stimmt nicht! Da die Diagnose heute meist früh gestellt wird und es große Fortschritte in der Therapie gibt, können immer mehr MS-Patienten gut damit leben – eine Mutmachgeschichte zum Welt-MS-Tag am 30. Mai.

VON ANDREA EPPNER

Thomas Wagner (Name geänderrt) ist Mitte 30, als die Krankheit zum ersten Mal ihr Gesicht zeigt. Er ist Kfz-Mechaniker, macht normalerweise kaputte Lastwagen wieder flott. An diesem Freitag vor fast 20 Jahren sitzt er aber selbst hinterm Steuer eines 40-Tonners. Als Fahrer will er sich etwas Geld dazuverdienen. Doch auf der Autobahn verliert er plötzlich die Orientierung. „Ich wusste nicht mehr, wo ich bin.“

Damals denkt Wagner, er habe sich einfach nur verfahren. Kann passieren. Heute hält er das für den ersten Hinweis auf die schwere Krankheit, die wenig später bei ihm festgestellt wird: Multiple Sklerose (MS). Dabei spielt das Immunsystem verrückt, fängt an, die eigenen Nervenzellen anzugreifen. In Gehirn und Rückenmark bilden sich dadurch Entzündungsherde (siehe Kasten) – und die wiederum können auch mal dazu führen, dass Betroffene unkonzentriert sind.

„Die MS ist wie ein Chamäleon. Sie kann sehr viele Arten von Symptomen auslösen“, erklärt Dr. Matthias Knop. Als Oberarzt leitet er die neurologische Station und die MS-Ambulanz am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, wo Wagner seit 2007 in Behandlung ist. Zu den häufigeren Symptomen gehören Probleme mit der Motorik, der Koordination, dem Sprechen und dem Sehen. „Je nachdem, wo gerade eine Entzündung im Gehirn aktiv ist.“

Die Symptome schleichen sich dabei meist langsam ins Leben: Oft ist da erst nur ein Kribbeln in Arm oder Bein, ein pelziges Gefühl, das Glas in der Hand wackelt. „Oder man wacht morgens auf und denkt, da ist noch Schlaf im Auge“, sagt Knop. „Dann wird das den Tag über nicht besser oder nimmt sogar zu.“

Auch bei Wagner sind es Sehstörungen, die Ärzte später auf die richtige Spur bringen. An jenem Freitag findet er zwar irgendwann ans Ziel. Doch als er später bei einbrechender Dunkelheit zurückfahren will, sieht er Doppelbilder: Kommt ihm ein Auto entgehen, sind da plötzlich vier Lichtkegel statt nur zwei.

In München kommt Wagner in eine Klinik. Er wird im Magnetresonanztomografen (MRT) untersucht. Ihm wird Blut abgenommen und eine Probe von seinem Nervenwasser: Dafür bekommt er eine örtliche Betäubung. Dann punktiert ein Arzt mit einer Hohlnadel den Kanal in der Wirbelsäule, in dem das Nervenwasser fließt. „Unangenehm, aber zu ertragen“, sagt Wagner dazu nur.

Die Proben werden im Labor auf Entzündungszeichen untersucht. Einen einzelnen Wert, der eine MS anzeigt, gibt es aber nicht. Knop vergleicht die Suche nach der Diagnose mit einem Puzzle: Zu den Einzelteilen gehören die Beschwerden des Patienten, aber auch die Ergebnisse vieler Untersuchungen. Erst zusammen ergibt sich ein Bild.

Auch bei Wagner verdichten sich die Hinweise: Im Nervenwasser finden sich Anzeichen einer Entzündung, nicht aber im Blut. Das ist ein Hinweis auf eine Entzündung in Gehirn oder Rückenmark, erklärt Knop. Das letzte Puzzlestück liefern dann die MRT-Aufnahmen. „Da waren überall weiße Flecken drauf“, erinnert sich Wagner – sie zeigen Entzündungsherde in seinem Gehirn. Nun ist das Bild komplett. Wagner erfährt, dass er MS hat.

Was das bedeutet, weiß er damals nicht. „Ich hatte noch nie von dieser Krankheit gehört“, sagt er. Seine Freunde scheinen mehr zu wissen. „Ist das nicht das mit dem Muskelschwund?“, fragt einer. Ein anderer, der im Rollstuhl sitzt, meint, Wagner werde es wohl bald genauso gehen.

Denn das Bild „Multiple Sklerose ist gleich Rollstuhl“ haben viele immer noch im Kopf. Dabei trifft es auf immer weniger Patienten zu. „Dieses Gesicht der MS wird immer mehr in den Hintergrund treten“, sagt Knop. Solche schweren Fälle werde es zwar noch geben. Doch bei MS-Patienten, die heute im Rollstuhl sitzen, liege die Diagnose oft schon lang zurück. Sie sind in einer Zeit erkrankt, als MRT-Geräte deutlich schlechtere Aufnahmen lieferten und sich viele Ärzte schwer damit taten, die ersten Symptome zuzuordnen. „Da gingen oft Jahre ins Land“, erinnert sich Knop. Doch das habe sich längst geändert. Viele, die heute die Diagnose bekommen – meist trifft das junge Menschen zwischen 20 und 40 – werden ein weitgehend normales Leben führen können. „Da man bei der Diagnose schneller ist, kann man heute verhindern, dass viel Nervengewebe kaputtgeht“, sagt Knop.

Zumal auch die Therapien sich enorm verbessert haben. In den vergangenen Jahren kamen immer wieder neue MS-Medikamente auf den Markt. Die Behandlung sei dadurch zwar komplexer geworden und daher unbedingt ein Fall für Ärzte in Spezialambulanzen und in auf MS spezialisierten Praxen, sagt Knop. Doch das sei auch ein Luxus, der es möglich macht, die Therapie auf den einzelnen Patienten anzupassen – und bei Bedarf eben auf ein anderes Mittel umzusteigen.

Bei Wagner war das mehrmals nötig. Damals, kurz nach der Diagnose, bekam er erst eine Woche lang Infusionen mit hoch dosiertem Kortison – bis heute Standard bei einem „Schub“. So nennt man Krankheitsphasen, in denen neue Symptome auftreten. Diese bilden sich meist zügig zurück, wenn man die Entzündung mit Kortison unterdrückt. Und: Je kürzer diese anhält, desto geringer die Schäden an Nervenzellen.

Bei Wagner verschwinden die Doppelbilder damals wieder. Auch das Gehen fällt ihm wieder leicht – erst in der Klinik hatte er bemerkt, dass ein Bein Probleme macht, wenn er etwa eine Treppe hochgehen will. Das ist nun weg.

Damit das so bleibt, bekommen MS-Patienten wie er eine „Basis-Therapie“. Bei Wagner sind das zunächst Spritzen, ein „Interferon-Beta“-Präparat. Anders als Kortison unterdrücken solche „Immunmodulatoren“ die Abwehr nicht – sie lenken sie in günstigere Bahnen.

Mehrere Jahre klappt das gut: Wagner kann arbeiten und schwingt sich in der Freizeit oft aufs Motorrad. Doch im Urlaub wird er nachlässig, lässt Spritzen aus. Daheim bezahlt er mit einem heftigen Schub: Eines Morgens schafft er es nicht mehr aus dem Bett. „Ich konnte das linke Bein nicht heben.“ Auch die Doppelbilder sind wieder da.

Damals schickt ihn sein Arzt weiter in die neurologische Klinik des MPI für Psychiatrie: Wieder bekommt er Kortison. Doch der Schub ist so massiv, dass die Ärzte ein Mittel einsetzen, das auch als Chemotherapeutikum genutzt wird. Erst nach vielen Wochen beruhigt sich sein Immunsystem. Danach wird Wagner auf ein anderes Basis-Medikament eingestellt.

Seit zwei Jahren kommt er nun einmal pro Monat in die MS-Ambulanz: Dann bekommt er eine Infusion mit einem Antikörper-Medikament. Dieses wirkt, indem es den Immunzellen den Zutritt zu Gehirn und Rückenmark verweigert. Auch das hat Risiken. Bislang kommt Wagner damit aber gut zurecht. Er hat kaum Beschwerden. Nur das linke Bein hat sich von früheren Schüben nicht ganz erholt. Er kann aber normal gehen, arbeiten und sogar Motorrad fahren. Der Rollstuhl? Der wird ihm so wie vielen anderen MS-Patienten wohl erspart bleiben.

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