Soljanka: Was von der DDR übrig blieb

von Redaktion

Weg in die Freiheit: Wenige Tage, bevor die Mauer fällt, setzen sich Sabine, 53, und Andreas Wolf, 56, auf ihr Motorrad, flüchten in den Westen. „Wir haben es nicht mehr länger ausgehalten“, sagt das Peitinger Ehepaar und kocht nebenbei eine Soljanka. In den Topf kommt, was (von der DDR) übrig blieb.

VON STEPHANIE EBNER

Es ist der 6. November 1989, als Ria Neumann im Fernsehen sieht, dass die Grenzen der Tschechoslowakei offen sind. Die Stahlarbeiterin setzt sich kurz entschlossen in ihren Trabbi, neben sich den schwerkranken Ehemann. Eine Kaffeekanne und einen Korb mit Essen hat die damals 52-Jährige eingepackt, mehr nicht – es wäre zu verdächtig gewesen. „Ich habe es nicht länger in der DDR ausgehalten“, sagt sie 30 Jahre später. Zeit ihres Lebens habe sie bereut, nicht schon vor 1961, dem Jahr des Mauerbaus, abgehauen zu sein. „Ich war die ständige Bevormundung durch den Staat leid.“

Von unterwegs ruft sie ihren Sohn Andreas an, informiert ihn über die Flucht. Statt die elterliche Wohnung auszuräumen, beschließt er, ebenfalls abzuhauen. „Der Gedanke war plötzlich da.“ Zusammen mit seiner späteren Frau Sabine packt er Zeugnisse und Liebesbriefe, die sie sich geschrieben haben, und fährt los. Nicht einmal einen Rucksack haben die beiden dabei – um ja nicht aufzufallen. Auf einem Motorrad geht es Richtung Tschechoslowakei – „Wir haben uns nicht umgedreht.“

Es bleibt keine Zeit, Sabines Eltern zu informieren. „In dem Moment dachten wir nicht darüber nach, was wir ihnen antun.“ Nur einen Tag später steht die Stasi vor der Tür der Eltern im heimischen Brandenburg. Die Familie weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, ob sie sich jemals wiedersehen wird.

„Wer sich nicht krank gemeldet hat, ist weg“, sagt Sabine Wolf über jene Tage in der DDR. Jeden Morgen habe jemand beim Antritt zur Frühschicht gefehlt. „Wir brauchen Euch“ und „Bleibt hier“: Das junge Paar kommt auf dem Weg in die Freiheit an zahlreichen solcher Plakate vorbei. Doch es gibt keinen Weg zurück. Erschöpft erreichen die beiden am Spätnachmittag des 9. November Schirnding und verschlafen den historischen Moment der Grenzöffnung: „Am nächsten Tag konnten wir es kaum glauben, dass die Mauer wirklich gefallen ist. Wir hielten es zunächst für einen Witz.“

Zum 30. Mal jährt sich der Mauerfall in diesen Tagen. Heute leben alle in Peiting (Landkreis Weilheim-Schongau). „Hier sind wir zuhause.“ Alle Familienmitglieder haben es nicht bereut, einen Neuanfang gewagt zu haben. „Hier konnten wir unsere Träume verwirklichen.“

Andreas Wolf arbeitet als Lehrer für Deutsch und Geschichte an der Realschule in Schongau. Eine Arbeit, die ihm in der ehemaligen DDR verwehrt wurde. Auch Ria Neumann hat sich nach dem Tod ihres ersten Mannes nochmals neu orientiert: Die Stahlarbeiterin sattelte bis zu ihrer Rente auf Altenpflege um – „schon als junges Mädchen wollte ich eigentlich Krankenschwester werden“.

Ria Neumann hat ihre Wohnung in Brandenburg nie wiedergesehen: „Ich hatte damit abgeschlossen.“ Ein Verwandter habe diese später für sie ausgeräumt.

Auch Sabine und Andreas Wolf haben ihre DDR-Vergangenheit hinter sich gelassen. In ihrem neuen Zuhause in Oberbayern erinnert nur wenig an die DDR. Die gelbe Glaslampe überm Küchentisch und die Konzertgitarre hat das Paar an Silvester 1989 geholt. Mehr wollten Sabine und Andreas für den Neuanfang gar nicht mitnehmen. Nur die Soljanka erinnert noch an den ehemaligen Osten. „Die kochen wir immer, wenn Besuch kommt.“ Allerdings tischen die Wolfs dann eine Soljanka de luxe auf. Fleisch, Hackbällchen, Wurst in Hülle und Fülle. Sabine Wolf genießt es, ohne Limitierung einkaufen zu können: „Zu DDR-Zeiten gab es 300 Gramm Fleisch pro Woche. Wenn der Fleischer überhaupt etwas in der Auslage hatte.“

Anders als seine Mutter hat Andreas Wolf irgendwann seine Stasi-Akte angefordert und darin einige seiner Freunde als Informanten gefunden. Er habe es ihnen nicht übel genommen und hätte sich gerne mit ihnen auf ein Bier getroffen – doch dazu kam es nie. „Sie haben es nicht verkraftet, für die Stasi gearbeitet zu haben“, mutmaßt der Lehrer. „Wer weiß, was ich damals gemacht hätte, wenn der Staat mir doch erlaubt hätte, Lehrer zu werden?“ Herbst 2019: Die Wolfs leben über den Globus verteilt. Sohn Robert (29) hat sich als Komponist in den USA niedergelassen, ist mit einer Asiatin liert. Die Tochter zieht zum Studium nach Berlin.

Die Freiheit zu haben, alles machen zu können, genießen die Wolfs am wiedervereinten Deutschland. „Umso bedauerlicher ist es, dass manche Länder jetzt die Grenzen wieder dicht machen“, sagt Sabine Wolf.

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