Wenn das Leben zu viel wird

von Redaktion

Die Trauer, die nicht aufhört. Die Stimmung, die nicht besser wird. Die Motivation, die nicht zurückkehrt: Depression im Alter hat viele Gesichter – und wird oft verkannt. Dabei ist diese Krankheit gut behandelbar. Eine Betroffenen-Geschichte.

VON BARBARA NAZAREWSKA UND SABINE MEUTER

Irgendwann wollte Irmgard H. (Name geändert), 73, nicht mehr aufstehen, nichts essen, kaum noch trinken. Einfach nur liegen bleiben – und am liebsten gar nichts mehr spüren. Vor allem nicht diese elende Einsamkeit. Ihre Kinder? Längst erwachsen und in einer anderen Stadt. Der Mann? Gestorben nach jahrzehntelanger Ehe. Das Leben? Nicht mehr lebenswert – ein scheußliches Gefühl. Irmgard H. hatte sich sprichwörtlich aufgegeben.

Die Geschichte von Irmgard H. ist kein Einzelfall. Es ist eine klassische Geschichte von Depression im Alter, jener Krankheit, die bis heute unterschätzt wird – gerade bei Senioren. Denn: Ärzte, Angehörige, Freunde nehmen bei ihnen oft eine gedrückte Stimmung als eine natürliche Reaktion hin. Selbst dann noch, wenn sie länger anhält.

Experten sagen, wenn Symptome wie Antriebs-, Freud- und Lustlosigkeit über mindestens zwei Wochen andauern, dann könnte eine Depression die Ursache sein. „Voraussetzung ist eine entsprechende Veranlagung – und manchmal kommt noch Negatives als Auslöser hinzu“, erklärt Prof. Ulrich Hegerl, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie. Er ist Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Bei Irmgard H. war es der Tod ihres Mannes. Zuerst kam die Trauer, eine tiefe Trauer. Doch statt irgendwann nachzulassen, wenigstens etwas, blieb sie einfach. Das Gefühl der Leere wurde immer schlimmer. Irmgard H. fühlte sich wie versteinert – unfähig, etwas zu tun.

Eine Depression beeinflusst Denken, Fühlen, Handeln, sie kann einen enormen Leidensdruck verursachen, sagen Experten. Und nur selten können sich die Erkrankten selbst helfen. Frauen sind übrigens etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. „Eine wichtige Rolle kommt in solchen Situationen den Angehörigen zu“, erklärt Psychologin Christine Sowinski vom Kuratorium Deutsche Altershilfe. Sie sollten depressive Stimmungen keinesfalls verharmlosen! Besser sei es, die Betroffenen behutsam nach ihrem Befinden zu fragen. Etwa so: „Ich mache mir Sorgen um dich, bitte suche dir professionelle Hilfe. Ich unterstütze dich gern dabei!“

Allerdings gibt es natürlich Situationen, in denen auch Angehörige an Grenzen stoßen: Sagt etwa ein Erkrankter, er wolle sich das Leben nehmen, sollten sie sofort den Notarzt rufen. Der weist dann den Betroffenen in eine Klinik ein.

Im Fall von Irmgard H. war es die Nachbarin, die sich Sorgen machte – die beiden hatten sich schon länger nicht mehr im Treppenhaus getroffen. Auch machte Irmgard H. immer seltener die Tür auf, wenn die Nachbarin klingelte. Also gab sich die Frau eines Abends einen Ruck – und kontaktierte Irmgard H.s Sohn. Sie mache sich Sorgen um seine Mutter, sagte sie. Dann erzählte sie ihm alles.

Der Sohn rief sofort daheim an, die Mutter nahm nach längerem Klingeln ab. Er überredete sie, dass sie die Woche darauf mal gemeinsam zum Arzt gingen. Zumal: Bei einem ersten Verdacht auf Depression ist tatsächlich der Hausarzt gefragt. Er untersucht unter anderem das Blut der Betroffenen, um etwa Schilddrüsenerkrankungen und einen Vitamin-B-Mangel auszuschließen – beides können Ursachen für Antriebslosigkeit und Traurigkeit sein.

Bei Irmgard H. stand relativ schnell fest, dass es sich um eine handfeste Depression handelt – schildern depressive Patienten ihre Beschwerden, wird dabei der Leidensdruck meist sehr deutlich.

Heute ist Irmgard H. in Therapie und nimmt Medikamente. Sie fühlt sich jetzt besser. „Viel lebendiger“, nennt sie es. Manchen Patienten hilft auch eine Lichttherapie. Und: Zur Behandlung gehören körperliches Training und regelmäßige Bewegung.

Allerdings gibt es im Alter auch Depressionen, die sich nicht durch eine andauernde Niedergeschlagenheit zeigen, sondern durch Sprach- und Gedächtnisstörungen – und damit einer Demenz ähneln. Um Verwechslungen zu vermeiden, stellt der Arzt gezielte Fragen. Prof. Hegerl erklärt: „Depressive Patienten können auf Nachfragen beispielsweise angeben, wie das Datum ist und wo sie sich gerade befinden.“ Bei Demenzerkrankten sei das meist nicht mehr möglich.

Ob Irmgard H. wieder ganz gesund wird, ob sie je wieder ohne Medikamente auskommt, kann niemand vorhersagen. Noch nicht, dafür ist das Ganze zu frisch. Aber sie fühle sich besser. Die Talsohle, sagt sie, sei durchschritten. Es gehe aufwärts.

Artikel 3 von 4