Die Wahrscheinlichkeit für eine Infektion lag bei 1 zu 1000 – das sind gerade mal 0,1 Prozent. „Ich war also nicht übermäßig besorgt“, sagt Oliver Sebert. „Warum sollte es ausgerechnet mich treffen?“
Als rund sechs Wochen später sein Testergebnis vorlag, wusste er, es hatte ihn doch erwischt: Er war HIV-positiv. Und damals, nämlich Anfang der 1990er-Jahre, gab es noch keine Medikamente gegen das Virus. „Ich dachte nur: Jetzt muss ich sterben.“
Sebert überlebte. Aber seine Karriere als Chirurg musste er an den Nagel hängen – dabei war er gerade erst Oberarzt geworden. Kurz zuvor hatte er sich bei einer OP verletzt, hatte sich versehentlich in den Finger gebohrt, es blutete stark. So einen Vorfall musste man melden. Sein Patient war ein Tourist aus Indonesien, er hatte einen komplizierten Bruch erlitten, musste schnell operiert werden. Ein Test ergab, dass der Mann HIV-positiv war.
Sebert arbeitete in den kommenden eineinhalb Monaten nicht mehr als Chirurg – bei einer Neuinfektion lassen sich erst nach dieser Zeit spezifische Antikörper im Blut feststellen. Als die Diagnose dann kam, wechselte er endgültig in die Forschung. Operieren durfte und wollte er damals nicht mehr.
Viel schlimmer als der vermeintliche Karriereknick war allerdings die Stigmatisierung. „Die Menschen hatten damals panische Angst vor HIV-Infizierten!“, sagt Sebert. Und dann erzählt er die Geschichte von einem Taxifahrer: Eine Krankenschwester hatte ein Taxi bestellt, der Fahrer sollte einen Patienten vom Krankenhaus nach Hause bringen. Irgendwie bekam er mit, dass dieser Patient HIV-positiv war – und weigerte sich. Er brauste einfach davon. Der Taxler dachte, er würde sich durch die gemeinsame Autofahrt anstecken.
Diese Episode ereignete sich lange vor Seberts Infektion – damals wusste er aber schon, dass dies kein Einzelfall sei, im Gegenteil. Deshalb beschloss er nach seiner Diagnose, nur ganz wenige Menschen einzuweihen. Daran hält er sich bis heute – sicherheitshalber. Seine persönliche Strategie, wie er es nennt.
„Meine Frau, ihre Söhne und unsere besten Freunde wissen Bescheid“, sagt er. Sonst niemand. Seine Frau, eine Wissenschaftlerin, habe er im Jahr 2000 kennengelernt, sie habe auf sein „Geständnis“ positiv reagiert; gemeinsame Kinder waren kein Thema für das Paar – „das war in meiner Lebensplanung nicht drin“, sagt Sebert. Auch Selbsthilfegruppen hat er nie besucht. „Nach wie vor haben Menschen mit HIV Angst vor Zurückweisung und Ausgrenzung“, sagt Privatdozent Dr. Christoph Spinner, der das Interdisziplinäre HIV-Zentrum (IZAR) am Uni-Klinikum rechts der Isar in München leitet (siehe Interview). „Sie überlegen, wem sie von ihrer Erkrankung erzählen und wem besser nicht. Dabei können sie ein ganz normales Leben führen – wenn ihnen die Diskriminierung nicht Steine in den Weg legen würde.“
Umfragen zufolge wüssten nämlich nur zehn Prozent der Bevölkerung, dass HIV unter Therapie nicht übertragbar sei – neun von zehn Menschen sind demnach nicht genug aufgeklärt. „HIV ist eine chronische Erkrankung, die das Immunsystem schwächt“, sagt Spinner. Ja, man könne sie nicht heilen – aber gut behandeln. Und damit die Funktion des Immunsystems wiederherstellen. Entsprechende Medikamente verhinderten, dass sich das Virus im Blut ausbreite. Diese Medikamente müssten zwar lebenslang genommen werden. Entscheidend sei jedoch: „Menschen mit HIV können dank ihnen normal leben“, erklärt Spinner.
So wie Sebert.
Heute geht es ihm richtig gut: Er muss nur eine Tablette am Tag schlucken, damit hält er das Virus in Schach – ganz ohne Nebenwirkungen. Als er sich vor rund 30 Jahren infizierte, wagte er nicht mal zu hoffen, dass er das Rentenalter erreichen würde. Damals war HIV ein Todesurteil.
Zunächst schritt ja auch bei Sebert das Virus voran, schwächte sein Immunsystem, immer mehr und immer öfter. Irgendwann wurde Sebert mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert – es sah nicht gut aus für ihn. „Doch dann geschah das Wunder“, erzählt er. Und meint damit die sogenannte „3-fach-Kombi“: die erste HIV-Therapie, die Mitte der 1990er-Jahre auf den Markt kam. Sebert nahm die Tabletten fortan mit „religiöser Genauigkeit“ ein. Deren Nebenwirkungen waren jedoch brutal: Durchfall, Bauchweh, Nervenschmerzen, „auch psychisch ging es mir nicht gut“. Aber: Es half. Sebert überlebte. „Ich hatte gewaltig Schwein.“
Seit 25 Jahren sei er nun „unter der Nachweisgrenze“ – sprich: Die Viruskonzentration in seinem Blut ist nicht nachweisbar; wie bei Nicht-Infizierten. Alle drei Monate lässt er das testen. Und in der Zwischenzeit ist er einfach nur zufrieden. „Wenn alles bleibt, wie es ist, dann ist es gut“, sagt er.
Und er meint das genau so.
*Name geändert
Offene Sprechstunde
Am Montag, 2. Dezember, um 8:30 bis 16 Uhr, findet im Interdisziplinären HIV-Zentrum IZAR am Uni-Klinikum rechts der Isar eine offene Sprechstunde mit HIV-Beratung, HIV-Tests und Beratung rund um sexuelle Gesundheit und Präventionsangebote statt. Eine Terminvereinbarung ist nicht erforderlich. Die Adresse in München lautet: Ismaninger Straße 22.