Die großen Chancen des Ruhestands

von Redaktion

Wer nicht mehr arbeitet, ist seine Pflichten los. Doch genau das kann auch zum Problem werden. Wie man es im Ruhestand schafft, sich neu zu orientieren? Und vor allem: sich selbst mehr Raum zu geben? Das weiß Theologe Wunibald Müller. Ein Interview.

Warum fällt manchen Menschen der Eintritt ins Rentenalter so schwer?

Weil es tatsächlich eine Zäsur ist, in dem vieles von dem, was unser Leben bisher ausgemacht hat, von unserer Bedeutung und worüber wir uns definiert haben, wegfällt. Dazu kommt, dass mit dem Ruhestand ein wichtiges Beziehungsnetz wegfällt – was auch schon ein großer Verlust ist.

Wie sollte man am besten damit umgehen?

Indem man sich bewusst macht: Es geht etwas zu Ende, aber es beginnt auch etwas Neues. Denn das Leben geht jetzt nicht zu Ende, sondern weiter, gegebenenfalls sogar mit mehr Möglichkeiten, das zu tun, was wir tun wollten – aber ein Leben lang nicht tun konnten.

Und welche Chancen sind das, die sich da bieten?

Die Chance, Beziehungen noch einmal neu zu gestalten. Zu schauen, welche Beziehungen aufrechterhalten werden sollen und auf welche verzichtet werden kann. Die Chance der größeren Auseinandersetzung mit sich selbst, unabhängig vom Beruf: Wer bin ich und was macht meinen Wert aus? Möglicherweise mit der schmerzvollen Auseinandersetzung, dass in bestimmten Fällen der Beruf auch für ein geringes Selbstwertgefühl herhalten musste. Dieser Wechsel ermöglicht es, der inneren Person des Selbst mehr Raum zu geben. Das kann heißen, zu meditieren, beten, Imaginations- und Traumarbeit zu leisten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Jetzt kommen die Menschen aber aus einer eher stressigen Phase des Lebens – und sollen auf Knopfdruck Innenschau betreiben? Geht das gut?

Ja, wenn ich mir Zeit lasse. Im Ruhestand ist es an der Zeit, nach innen zu schauen. Mich mit meiner Endlichkeit auseinanderzusetzen. In dem Moment, wo ich erkannt habe, dass diese Auseinandersetzung mir hilft, mit meiner Innenseite in Berührung zu kommen, wo Dinge wie Reichtum, Erfolg und Gesundheit relativiert werden, ist das eine gute Vorbereitung für das Loslassen. Dann kann ich mich darauf einstellen, dass die Sonne in meinem Leben am Sinken ist, ich mich am Abend meines Lebens befinde – und dass genau das auch gut ist!

Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, sein Passwort im Leben zu finden?

Das Bild des Passworts stammt von Romano Guardini, der zu den bedeutendsten katholischen Religionsphilosophen und Theologen des 20. Jahrhunderts zählt. Er sagt, dass in diesem Passwort unsere Berufung oder auch Bestimmung zum Ausdruck kommt. Und es wichtig ist, immer mehr die zu werden, die wir werden sollten. Der Mystiker Thomas Merton geht sogar so weit zu sagen: Heiligkeit bedeutet: „Der zu werden, der du berufen und bestimmt bist. Und wer nicht er selber wird, hat nicht gelebt.“

Was heißt das konkret für den Ruhestand?

Zunächst einmal sollte immer klarer werden, wer ich bin und was ich will. Es ist der Aufruf im Alter, wo ich nicht mehr gezwungen bin, aus wirtschaftlichen Gründen etwas zu tun, was ich gar nicht will. Und: Man sollte sich mit Seiten von sich versöhnen, die bislang noch nicht zum Ausdruck gekommen sind – zum Beispiel mit einer künstlerischen Seite, die in einem steckt.

Fehlen denn Vorbilder in der Gesellschaft für ein Älterwerden in Würde?

Angesichts einer „Anti-Aging“-Kultur befürchte ich: ja. Doch wenn man sucht, findet man sie. Zum Beispiel bei den Mönchen, die treu bis zum Schluss ihrem gewohnten Rhythmus gemäß leben. Mir fallen auch ganz bestimmte Personen ein: Der Schriftsteller Heinrich Böll, wie er an einem Feldweg entlanggeht. Davon geht für mich etwas Schönes und Sehnsuchtsvolles aus. Oder der Tiefenpsychologe C. G. Jung mit über 70 Jahren, der ein altes, nachdenkliches Gesicht hat und klare helle Augen. Da habe ich überhaupt keine Angst, alt zu werden. Vorbilder können auch alte Menschen sein, die gar nichts Besonderes sein müssen, die eine Zufriedenheit ausstrahlen, von denen etwas Schönes ausgeht. Bei denen man den Eindruck hat, dass sie tatsächlich wieder wie Kinder sind, die gelassen und zuversichtlich der Zukunft, dem Ende entgegenhüpfen.

Warum besteht eine Spaltung zwischen leistungsfähiger Berufstätigkeit und zurückgezogenem Alter?

Das ist leider oft so, muss es aber nicht sein. Deshalb gefällt mir C. G. Jungs Bild von der Person Nummer eins, mit der wir in der Welt stehen, und der Person Nummer zwei, die ich in meinem Inneren bin. Solange ich auf der Welt bin, ist die Person Nummer eins wichtig: Ich muss meinen Mann, meine Frau stehen, mich politisch engagieren, entsprechend meinen Möglichkeiten etwas leisten. Das steht zunächst im Vordergrund. Je älter ich aber werde, desto wichtiger ist es auch, sich jetzt mehr Zeit als früher dafür zu nehmen, sich zurückzuziehen und nach innen zu gehen, sich auf seine Träume zu konzentrieren. Eine gute Balance zwischen den Bedürfnissen von Person Nummer eins und Person Nummer zwei zu finden, darin liegt die Kunst!

Interview: Gabriele Ingenthron

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