16,9 Millionen Operationen in deutschen Kliniken. Allein stationär. Allein im Jahr 2018. Chirurgische Eingriffe sind häufig. „Das müssen wir operieren.“ Diesen Satz bekommt fast jeder irgendwann in seinem Leben zu hören. Bei vielen weckt er Ängste – vor dem Eingriff selbst, aber auch vor der Narkose. „Eine moderne Anästhesie ist extrem sicher“, beruhigt Prof. Bernhard Zwißler, Direktor der Klinik für Anästhesiologie am Klinikum der Universität München. Wir haben ihn gebeten, einige Behauptungen, die sich besonders hartnäckig halten, zu überprüfen.
„Eine Narkose ist nur ein sehr tiefer Schlaf“
Stimmt nicht. Bei einer Vollnarkose schlafen Patienten nicht nur. „Narkotika schalten das Bewusstsein aus“, erklärt Zwißler. Informationen über Geräusche, Berührung oder Schmerz erreichen dann zwar weiter das Gehirn. Sie werden aber nicht mehr verarbeitet. „Die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ist aus dem Takt“, erklärt der Experte – und vergleicht den wachen Zustand mit einer La-Ola-Welle, die durchs Fußballstadion rollt, weil alle Zuschauer im richtigen Moment aufstehen. „Springt jeder einfach irgendwann auf, wird keine Information mehr weitergegeben.“ Ein ähnliches Chaos verursachen Narkosemittel im Gehirn. Sie dämpfen zugleich die Aktivität der Nervenzellen insgesamt. Beides natürlich nur vorübergehend: Weil die meisten Mittel heute kürzer wirksam seien, lasse sich die Dauer einer Narkose noch präziser steuern als früher, erklärt der Experte.
„Nach einer Vollnarkose wird vielen richtig übel“
Stimmt nur zum Teil. Zwar gibt es Patienten, die zu Übelkeit und Erbrechen neigen; das sind zum Beispiel Menschen, denen beim Autofahren oder etwa auf Schiffsreisen leicht übel wird. Das Risiko lasse sich aber durch gezielte, vorbeugende Maßnahmen „deutlich reduzieren“, sagt der Experte. Das ist auch ein Grund, warum Patienten bei der OP-Aufklärung oft so viele Fragen beantworten müssen. „In unserer Klinik sind wir seit einem Jahr auch dabei, zusätzlich mit Akupunktur zu arbeiten“, sagt Zwißler. Der Effekt des Verfahrens aus der traditionellen chinesischen Medizin sei bei Übelkeit belegt. Und: Ist absehbar, dass ein Patient nach dem Eingriff starke Schmerzen haben wird, bekommt er oft schon während der OP einen Schmerzkatheter. Damit lassen sich auch danach noch gut verträgliche Lokalanästhetika verabreichen, die den Schmerz ausschalten. Oft können Patienten die Zufuhr sogar per Knopfdruck selbst steuern. So kann man oft auf Opioide verzichten. Das sind starke Schmerzmittel, die leider oft zu Übelkeit führen.
„Eine Vollnarkose ohne Spritze ist nicht möglich“
Stimmt nicht. Zwar starte man eine Narkose heute meist, indem man Narkosemittel über einen Venenzugang einspritzt. Viele Kinder und manche Erwachsene haben aber Angst vor Spritzen. Bei ihnen könne man einen Eingriff auch mit einem Narkosegas einleiten: Dabei bekommt der Patient eine Maske auf Mund und Nase gesetzt – und wird nach wenigen Atemzügen bewusstlos.
„Eine Vollnarkose ist sehr belastend für die Organe“
Stimmt nicht. Schon bei der Wahl der Narkose plant der Anästhesist individuelle Risiken ein – und wählt dann die am besten geeignete Narkoseart. So können selbst Patienten mit einer Herzschwäche narkotisiert werden, erklärt Zwißler. Sie erhalten herzstärkende Medikamente. Zudem werde eine Kanüle in eine kleine Schlagader der Hand gelegt, „um den Blutdruck bei jedem Herzschlag zu überwachen“. So lässt sich der Blutdruck stabil halten.
„Für Hochbetagte kann eine Narkose zu viel sein“
Stimmt nur zum Teil. Ein hohes Alter ist nicht per se ein Grund, auf eine Narkose und damit auf eine Operation zu verzichten. Tatsächlich steigt die Zahl der Patienten, die noch in höherem Alter operiert werden, sogar stetig. Das liegt vor allem am wachsenden Anteil der Älteren an der Bevölkerung, aber auch an schonenderen OP-Techniken, die nur kleine Schnitte erfordern. Die Narkose sei heute so gut wie nie der Grund, auf eine Operation zu verzichten, sagt Zwißler. Entscheidend sei vielmehr das Gesamt-Risiko – und das hängt viel stärker von der Art des Eingriffs ab und von Vorerkrankungen. „Auf diese nehmen wir Rücksicht und behandeln die Patienten dann anders.“
„Oft sind ältere Patienten nach der Narkose verwirrt“
Stimmt zum Teil. Bestimmte Patienten neigen eher zu Verwirrtheit nach einer OP. Dazu gehören Ältere, Patienten mit Demenz und Depressionen sowie solche, die Psychopharmaka einnehmen. Welchen Anteil die Narkose daran hat, ist unklar. Eine wichtige Rolle spielen auch Faktoren wie die fremde Umgebung und der ungewohnte Tagesablauf. Indem man Risikopatienten früh die Orientierung zurückgibt, lässt sich vorbeugen. Dazu sollten sie schon im Aufwachraum Hörgerät und Brille zurückerhalten und die Uhr gezeigt bekommen. Hilfreich sei auch ein früher Besuch von Angehörigen.
„Viele bekommen trotz Narkose etwas mit“
Stimmt nicht. Zwar gibt es Patienten, die nach einer OP berichten, etwas mitbekommen zu haben. „Das ist aber extrem selten“, beruhigt Zwißler. Betroffen sei einer von 19 000 narkotisierten Patienten. Von diesen wenigen wiederum berichten die allerwenigsten von Schmerzen. Die meisten sagen, sie hätten etwas gehört. Oft sei unklar, ob diese Wahrnehmungen erst in der Aufwachphase aufgetreten sind. „Das soll das Phänomen nicht verharmlosen“, sagt Zwißler. Wie tief eine Narkose ist, sei nicht mit letzter Sicherheit messbar. Es lasse sich aber sehr gut einschätzen. Dabei helfe die Erfahrung, aber auch die Überwachung von Körperfunktionen wie Blutdruck und Puls, in ausgewählten Fällen auch der Hirnströme.