Was genau bedeutet Biografiearbeit?
Das ist ein Ansatz in der Bildungsarbeit, der Seelsorge oder der Pflege. Es ist ein Weg, um reflektiert mit dem eigenen Leben umzugehen. Es geht aber nicht nur darum, mit der Vergangenheit zu arbeiten, das wird oft missverstanden, denn das wäre dann Nostalgiearbeit. Die Kernfrage bei der Biografiearbeit lautet: „Welche Kompetenzen, Ressourcen und Stärken habe ich in der Vergangenheit bewiesen, um mit der Gegenwart und der Zukunft besser umgehen zu können?“
Und wo fängt man am besten an?
In den Seminaren geht es zum Beispiel einfach mal darum, sich zu überlegen: Welche Herausforderungen habe ich in meinem Leben überwunden? Wer oder was hat mir dabei geholfen? Und: Welche dieser Fähigkeiten oder Ressourcen kann ich jetzt wieder gebrauchen?
Ist das nur etwas für eher ältere Menschen?
Grundsätzlich kann man Biografiearbeit mit allen Altersgruppen machen – das kommt zum Beispiel auch in SOS-Kinderdörfern oder bei der sozialen Arbeit mit Obdachlosen zum Einsatz. Sehr beliebt ist das bei Frauen am Ende der Familienphase, wenn also die Kinder älter oder aus dem Haus sind. Dann sind die betroffenen Frauen auf der Suche nach Orientierung. Natürlich spielt Biografiearbeit vor allem auch in der Altenarbeit, in der Pflege, in der Arbeit mit dementen Menschen und auch in Hospizen eine große Rolle.
Und selbst im Hospiz steht dann nicht die Vergangenheit im Mittelpunkt – sondern das Hier und Jetzt?
Absolut! Selbst da geht es bei der Biografiearbeit immer um die Frage: „Welche biografischen Erfahrungen helfen mir in der Zukunft?“ Und wenn es auch nur die letzten drei Stunden sind. Da kann es dann etwa darum gehen, loslassen zu können.
Die Biografiearbeit kommt ja stark in der Pflege und bei der Arbeit mit Demenzkranken zum Einsatz …
In der Pflege hat die Biografiearbeit viele positive Nebeneffekte. Ein Beispiel: Wenn ich jemanden wasche und dabei mit ihm über positive Lebensereignisse spreche, ist der oft unverkrampfter – selbst bei solchen manchmal unangenehmen Pflegehandlungen. Und in der Arbeit mit Demenzkranken kann das sogar noch weitreichendere Auswirkungen haben – etwa dass die Betroffenen wieder ihr Zimmer finden.
Die Vergangenheit ist ja bei den meisten Menschen nicht nur schön. Ansatz der Biografiearbeit ist aber, sich auf das Positive zu konzentrieren. Das Schlechte lässt man weg?
Man sagt ja in der Wirtschaft auch „Der Blick auf Stärken stärkt, der Blick auf Schwächen schwächt“. Das lässt sich auf die Biografiearbeit übertragen – wobei es nicht bedeutet, dass man die negativen Ereignisse weglässt. Einsamkeit, Ängste, Trauer und so weiter muss man auch artikulieren können. Aber man sollte eben gleichzeitig auch immer die positiven Erlebnisse und Aspekte in den Blick nehmen.
Und spricht man dann nur darüber – oder sollte man die Ergebnisse der Arbeit auch dokumentieren?
Wenn Biografiearbeit eine Schatzsuche ist, dann muss ich den Schatz auch heben – ich muss das Erarbeitete also irgendwie festhalten. Das kann ein Text sein, viele Menschen haben da aber gar nicht so den Zugang zu. Dann sind es eben Bilder oder Erinnerungsstücke, Muscheln von der Nordsee etwa oder das Taschentuch des Partners. Die kann man dann auch tatsächlich in eine Art Schatzkiste packen. Wir brauchen Erinnerungsanker!
Kann dann daraus auch mehr werden, also so eine Art Familiengeschichte?
Man kann das Erarbeitete natürlich auch in eine Art Familienchronik packen. Im Mittelpunkt sollte aber immer stehen, was davon für den Menschen selbst greifbar ist.
Kann man als Tochter oder Enkel die Biografiearbeit mit Oma oder Papa selber machen?
Jeder kann das probieren, auch Angehörige von Älteren. Wichtig ist aber, dass alles freiwillig ist. Wenn jemand gar nicht oder explizit nicht über bestimmte Dinge sprechen will, dann ist es so. Manches ist einfach zu belastend für die Seele.
Jetzt sind Angehörige ja keine Unbeteiligten, sondern oft Teil der Lebensgeschichte. Was ist, wenn es da Streit gibt?
Jeder erlebt seine persönliche Wahrheit und hat seine persönliche Sicht auf die Biografie – das gilt selbst für Geschwister, die im gleichen Elternhaus aufgewachsen sind. Es muss klar sein, dass es die eine biografische Wahrheit nicht gibt und dass es darum auch nicht geht. Und als Angehöriger sollte ich mich vorher schon mal fragen, ob ich manche Sachen wirklich hören will. Das kann auch heikel werden, wenn es etwa um die NS-Vergangenheit geht oder um Alkoholismus in der Familie. Ich bekomme bei der Biografiearbeit nicht immer nur schöne Geschichten erzählt …
Aber der Versuch lohnt sich trotzdem?
Ja! Biografiearbeit ist Wurzelarbeit. Die Welt ist unsicher, vieles ändert sich – wenn man starke Wurzeln hat, kann man solche Stürme aber gut überstehen. Richtig angepackt, kann aus dem Blick zurück neue Kraft für den Weg nach vorne werden!
Interview: Tobias Hanraths