Schicke grüne Bluse, die Haare gefärbt, dazu dunkelroter Lippenstift, Ketten und Ohrringe: Irene Schreiner legt auch mit 89 Jahren Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Hinter ihr liegt ein Leben im Rampenlicht. In jungen Jahren stand die Münchnerin mit den Stars der 50er-Jahre auf der Bühne. Sie sang und tanzte mit Marika Rökk und spielte Seite an Seite mit Hans Moser im Deutschen Theater.
Mehr als 70 Jahre ist das her. Heute braucht Schreiner nicht nur einen Gehstock, sondern auch eine Brille. Schon lange hat sie Probleme mit den Augen, hat deshalb schon mehrere Eingriffe hinter sich. Auf dem rechten Auge sieht sie „nur noch verschwommen“, wie sie sagt. Dann deutet sie auf das andere Auge. „Das linke ist mein besseres Auge.“ Doch auch mit dem sieht sie nicht besonders gut. Wie so viele Menschen im Alter leidet Schreiner an feuchter AMD, einer rasch fortschreitenden Form der altersabhängigen Makuladegeneration. Trotz Behandlung und Brille fällt ihr das Sehen stetig schwerer.
Darum ist sie heute „Testperson“ im Sehlabor der Hochschule München: Studenten sollen mit ihrer Hilfe lernen, was Menschen hilft, die trotz augenärztlicher Behandlung und passender Brille nicht mehr richtig sehen können. Das ist gerade bei Senioren ein unterschätztes Problem, sagt Prof. Werner Eisenbarth, Leiter des Zentrums für angewandte Sehforschung (ZEFAS) an der Hochschule München, der den Kurs konzipiert hat. „Viele Patienten sind zwar medizinisch oft perfekt versorgt, trotzdem können sie nicht mehr lesen.“
Dabei sei gerade das ein großer Verlust für viele ältere Menschen – einschneidender, als nicht mehr fernsehen oder den Herd bedienen zu können. Auch Patientin Schreiner sagt von sich: „Ich habe stets gern gelesen, ich war nämlich schon immer sehr neugierig.“ Sie ist daher froh, dass es damit trotz ihres Augenleidens noch klappt.
Dabei hilft Schreiner allerdings ein kleiner Helfer: eine Handlupe. Das reicht ihr derzeit noch, um weiter Zeitungen und Bücher lesen zu können. Viele Senioren mit Sehbehinderungen brauchen dazu allerdings andere und oft auch teurere Helfer. Nur damit gibt es ein Problem. „So lange jemand erwerbstätig ist, ist er relativ gut versorgt“, sagt Eisenbarth. „Wenn Sie aber 70 Jahre alt sind und sehbehindert werden, gibt es relativ wenige Angebote.“
Eisenbarth ärgert das. „In Deutschland fehlt eine ophthalmologische Grundversorgung“, kritisiert er. Bekomme ein Patient eine neue Hüfte, sei es ganz normal, dass ihn der Orthopäde nach der Operation zur Reha schickt. „Beim Auge sind Rehamaßnahmen dagegen nicht vorgesehen“, klagt Eisenbarth. Dabei sei die ebenso wichtig wie eine gute medizinische Behandlung.
Anders als Irene Schreiner erfahren daher viele Senioren mit Sehbehinderungen gar nicht, dass es Hilfe für sie gäbe. Der Augenarzt fühle sich oft nur für das rein medizinische zuständig, sagt Eisenbarth. Hier seien die meisten auch gut versorgt: Bei Patienten mit Grauem Star wird die trüb gewordene Augenlinse ersetzt. Wer wie Schreiner an feuchter AMD, einer Netzhauterkrankung, leidet, bekomme alle paar Wochen Spritzen ins Auge. Sie sollen das Fortschreiten der Erkrankung zumindest bremsen. Die Therapie ist aufwendig, teuer, wird aber bezahlt.
Nur: Hilfsmittel für den Alltag müssen Senioren meist selbst bezahlen. Einen Zuschuss gebe es meist nur für eine einfache Handlupe, sagt Eisenbarth. Auf technische Helfer wie ein elektronisches Bildschirmlesegerät hätten Senioren erst bei einem Sehvermögen unter 30 Prozent Anspruch. Lesen können Betroffene da schon lange nicht mehr.
Dabei gibt es eine große Auswahl an Hilfsmitteln: Im Angebot sind längst nicht nur einfache Handlupen. Solche Vergrößerungshilfen gibt es teils sogar mit Beleuchtung. Denn gutes Licht sei ganz entscheidend für das Lesen, wie Eisenbarth sagt. Das klappt auch ohne Strom: So gibt es halbkugelförmige Vergrößerungsgläser, die man direkt auf einem Text aufsetzt. Da die kugelige Oberfläche einfallendes Licht bündelt, wird die Schrift so auch gleich beleuchtet. Springt der Blick beim Lesen von einer Zeile zur anderen, kann eine Vergrößerungshilfe mit integrierter roter Linie helfen.
Das sind nur die einfacheren Helferlein. Reichen die nicht mehr, leisten elektronische Bildschirmlesegeräte gute Dienste. Die gibt es in verschiedenen Ausführungen: Manche sind klein und kompakt genug, um sie auch mal mitnehmen zu können. Andere sind ziemlich groß – dafür lässt sich damit besonders gut die Zeitung lesen: Die legt man auf einen verschiebbaren Arbeitstisch unter dem Gerät. Die Artikel erscheinen dann auf einem Bildschirm. Schriftgröße und Helligkeit lassen sich anpassen.
Nur: Auch wer solche Hilfsmittel selbst bezahlen kann und will, steht vor einem Problem: Er muss erst einmal das für ihn am besten geeignete Hilfsmittel finden. Doch dazu sei eine umfassende und unabhängige Beratung wichtig, sagt Eisenbarth. Für Optiker sei das Ziel dagegen immer der Verkauf – nur dann lohnt sich der Aufwand.
Schreiner hatte hier großes Glück: Als langjährige Testperson im Sehlabor ist sie mit Expertentipps stets gut versorgt. Viele andere wissen dagegen gar nicht, wohin sie sich wenden können. Das Angebot ist überschaubar (siehe Kasten). Eisenbarth hat darum selbst eine „Reha für das Auge“ entwickelt – eine „LowVision-Sprechstunde“, die er alle zwei Wochen in den Räumen des Augenzentrums Nymphenburger Höfe in München anbietet – in Zusammenarbeit mit Prof. Peter Heidenkummer und Prof. Michael Janusz Koss. Für rund 200 Euro bekommen Patienten dort zusätzlich zum regulären Augenarzt-Termin eine Beratung. Nicht ganz billig. Dafür wird etwa die Lesesehschärfe bestimmt, es gibt ein Untersuchungsprotokoll und konkrete Vorschläge für eine Versorgung mit Hilfsmitteln.
Patientin Schreiner kommt derzeit mit ihrer Lupe noch gut zurecht. Die hilft ihr auch, wenn sie alte Zeitungsartikel wieder hervorholt; die, in denen über ihre vielen Auftritte von einst berichtet wird. „Ich habe sie alle aufgehoben“, erzählt Schreiner und lacht. Sie freut sich, dass sie trotz ihres Augenleidens noch in Erinnerungen schwelgen kann.