Die Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe gegen eine Krankheit dauert in der Regel Jahre – oft sogar Jahrzehnte. Vor allem Studien an Menschen sind aufwendig. Doch in Zeiten der Corona-Pandemie muss es schneller gehen. Deshalb setzen Experten auf die „Recyclingmethode“. Sprich: Sie widmen Wirkstoffe um – gemeint sind hier Wirkstoffe, die schon für andere Krankheiten entwickelt wurden. Denn sie könnten auch gegen die Lungenkrankheit Covid-19 helfen. Ein detaillierter Überblick – zu Medikamenten und Impfstoffen.
Remdesivir
Dieser Wirkstoff gilt als besonders aussichtsreich. Remdesivir, eine Substanz, die die Vermehrung des Virus hemmt, wurde ursprünglich gegen Ebola-Infektionen entwickelt. In der klinischen Prüfung brachte der Wirkstoff aber keine guten Ergebnisse – die Entwicklung wurde nicht weiterverfolgt. Jetzt sieht es anders aus: Weil erste Laborergebnisse im Einsatz gegen Coronaviren Erfolge erzielten, wird Remdesivir in Deutschland in zwei klinischen Studien getestet. An einer internationalen Studie, bei der die Substanz an 600 Patienten mit moderaten Symptomen und an 400 mit schwerer Symptomatik erprobt werden soll, nehmen unter anderem die München Klinik Schwabing, das Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) und die Uniklinik Düsseldorf teil. Sollte diese Studie Erfolge bringen, könnte das Mittel Ende 2020 auf den Markt kommen.
Hydroxychloroquin
Das ist ein hochgehandelter Wirkstoff im Kampf gegen Sars-CoV-2. Das Malariamittel Hydroxychloroquin ziele allerdings nicht direkt auf das Virus ab, sondern greife in zelluläre Prozesse ein, die für das Virus existenziell seien, erklärt Expertin Melanie Brinkmann, Virologin am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI). Erst kürzlich wurde dazu eine französische klinische Studie vorgestellt, die Experten zufolge, darunter auch der Berliner Virologe Prof. Christian Drosten, „nicht aussagekräftig“ sei. Das bedeutet jedoch nicht, das Medikament sei gegen die Krankheit Covid-19 unwirksam. Erst vergangenen Mittwoch wurde in Deutschland eine klinische Studie genehmigt, die genau das untersuchen soll. Allersding hat der Stoff auch erhebliche Nebenwirkungen. So warnte erst jüngst die Deutsche Herzstiftung vor dem versuchsweisen Einsatz des Anti-Malariamittels Chloroquin – vor allem in Kombination mit dem Antibiotikum Azithromycin, das die Wirkung beschleunigen soll. Es könne zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen kommen. Thomas Meinertz vom wissenschaftlichen Beirat der Stiftung sagte: „Man weiß, dass jedes der Medikamente zu bösartigen Herzrhythmusstörungen führen kann – und sich eine Kombinationstherapie beider Medikamente eigentlich verbietet.“ Und: „Nur dann, wenn die Wirksamkeit die Nebenwirkungshäufigkeit bei Weitem überwiegt, ist ein klinischer Einsatz einer solchen Therapie gerechtfertigt.“
Lopinavir & Ritonavir
Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) testet vier Medikamente beziehungsweise Medikamentenkombinationen: das Virostatikum Remdesivir sowie das Malaria-Medikament Chloroquin (siehe Text weiter oben). Und: die HIV-Kombination Lopinavir & Ritonavir; diese soll noch ergänzt werden um Beta-Interferon, das ist ein Immunmodulator. Eine Immunmodulation bezeichnet die Veränderung des körpereigenen Abwehrsystems, also des Immunsystems, durch pharmakologisch wirksame Stoffe. Aktuell wird Angaben zufolge diese Dreierkombination bereits bei MERS-Patienten in Saudi-Arabien getestet.
Ritonavir und Lopinavir sind nicht nur zur Behandlung von HIV-Infektionen zugelassen, sondern auch in der Lage, die Proteasen, also bestimmte Enzyme, anderer Viren – speziell Coronaviren – zu hemmen. Eine erste Studie bei Covid-19-Patienten sei allerdings nicht ermutigend gewesen, schreibt das „Ärzteblatt“. Demnach berichteten am 15. März chinesische Ärzte im „New England Journal of Medicine“, dass kein Unterschied zur Standardtherapie erkennbar gewesen sei. Allerdings sollen die Patienten zum Zeitpunkt der Behandlung schon sehr schwer krank gewesen sein – möglicherweise sei das Mittel schlichtweg zu spät verabreicht worden.
Favipiravir
Dieser viren-bekämpfende Stoff ist eigentlich ein Grippemittel. Derzeit wird Favipiravir gegen den Erreger Sars-CoV-2 erprobt. Unproblematisch sind solche Virostatika nicht ganz, warnen Experten. „Viren verändern sich und können resistent werden“, sagt Virologin Brinkmann. Das bedeutet also: Ähnlich wie bei Antibiotika könne es auch bei Virostatika zu Resistenzen kommen.
Antikörper
Menschen bilden Antikörper gegen verschiedene Krankheitserreger, die in den Körper gelangen – auch gegen das neue Coronavirus. Eine besondere Rolle spielen dabei neutralisierende Antikörper. „Die neutralisierenden Antikörper patrouillieren praktisch vor der Zelle und fangen das Virus ab, sodass es nicht in die Zelle eintreten kann“, erklärt Virologin Brinkmann. Auch nachdem ein Patient genesen ist, blieben Antikörper noch eine Weile im Blut.
Auf der Bildung solcher Antikörper beruht auch die Wirkung der meisten klassischen Impfungen. Eine klinisch etablierte Methode ist es, Antikörper von genesenen Menschen zu nehmen und Erkrankten zu geben. Bei diesen können die Antikörper dann den jeweiligen Erreger bekämpfen. Theoretisch ist auch vorstellbar, dass man etwa klinischem Personal solche Antikörper vorbeugend gibt – sie müssten dies dann aber alle zwei Wochen neu erhalten, schätzt Brinkmann.
Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) sucht zurzeit nach Menschen, die an Covid-19 erkrankt waren und genesen sind. Mit einer Blutplasmaspende könnten sie auch demnächst Antikörper für Erkrankte abgeben. „Wir wollen versuchen, ob wir damit nicht Schwerstkranken helfen können“, sagt der MHH-Institutsleiter für Transfusionsmedizin, Rainer Blasczyk.
Auch Kliniken in New York versuchen mit Antikörpern von Genesenen Leben zu retten, wie die Zeitschrift „Nature“ vor wenigen Tagen berichtete. Da Antikörper im Gegensatz zu herkömmlichen Medikamenten körpereigene Stoffe sind, sollten in der Regel auch die Nebenwirkungen gering ausfallen.
An der Technischen Universität Braunschweig (TU) können menschliche Antikörper gegen SARS-CoV-2 mittlerweile im Reagenzglas gewonnen werden. Im Gegensatz zu Präparaten aus dem Blut gesundeter Patienten sei dies Experten zufolge eine unerschöpfliche Quelle. Aber: Diese Antikörper müssten noch auf ihre Wirksamkeit getestet werden.
VPM1002
Dieser Impfstoff gilt als „Immunbooster“. Forschende wollen nun in einer sogenannten Phase-III-Studie untersuchen, ob der gegen Tuberkulose entwickelte Impfstoff-Kandidat „VPM1002“ auch bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 wirksam ist. Diese Studie soll an mehreren Kliniken in Deutschland durchgeführt werden – „und wird ältere Menschen sowie Beschäftigte im Gesundheitswesen umfassen, die besonders von der Erkrankung bedroht sind“, so die Experten. „VPM1002“ könnte dabei helfen, die Zeit bis zur Entwicklung eines spezifischen Impfstoffs gegen das neuartige Coronavirus zu überbrücken. „VPM1002“ basiert Angaben zufolge auf dem BCG-Impfstoff gegen Tuberkulose. Studien an Mäusen hätten gezeigt, dass dieser Impfstoff nicht nur vor Tuberkulose, sondern auch vor Virusinfektionen der Atemwege schütze. Offenbar aktiviert die BCG-Impfung auch das Immunsystem gegen Virusinfekte: Die Gefahr schwerer Krankheitsverläufe verringere sich, die Todesrate sinke.
MVA
Diese Abkürzung steht für „Modifiziertes Vaccinia-Virus Ankara“. „Es ist als Pocken-Impfstoff in Europa, in den USA und Kanada zugelassen – und in München entwickelt worden“, sagt Prof. Dr. Gerd Sutter, Inhaber des Lehrstuhls für Virologie am Institut für Infektionsmedizin und Zoonosen der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Plattform-Technologie“, sprich: In dieses etablierte Impfvirus bauen die Forscher „ein ungefährliches Stück Erbmaterial des neuartigen Coronavirus ein“. Dieser DNA-Abschnitt trage die Information für ein spezifisches Eiweiß der Coronavirus-Hülle. Dagegen solle sich dann die schützende Immunantwort nach einer Impfung richten. Dieser vielversprechende Ansatz wird bereits gegen das MERS-Virus getestet, das zu den Coronaviren zählt und schwere Infektionen der Atemwege sowie der Lunge auslöst. bn/dpa