Dirk Spohd, Geschäftsführer von „Hilfe im Alter“, rennt derzeit von einer Krisensitzung in die nächste. Alles dreht sich nur noch um Notfallpläne, Schutzausrüstungen, Isolierstationen – logistische Fragen, die schnellstmöglich geklärt werden müssen. Denn „Hilfe im Alter“, ein Tochterunternehmen der Inneren Mission München, betreibt zehn Pflegeheime in der Region. Wer in diesen Häusern lebt, ist alt, krank – und gehört zur Hochrisikogruppe in der Corona-Krise.
Deswegen gilt auch seit Mitte März ein bayernweites Besuchsverbot: Niemand soll das Virus in solche Einrichtungen einschleppen; die Infektionsgefahr ist zu groß, wenn Angehörige und Freunde vorbeikommen. Und doch gibt es dabei ein Dilemma: „Normalerweise sind Sozialkontakte für Menschen im Pflegeheim wichtiger als gesundheitliche Unversehrtheit“, sagt Pfarrerin Dorothea Bergmann; die Theologin leitet in der „Hilfe im Alter“ die Fachstelle „Spiritualität – Palliative Care – Ethik – Seelsorge“. Sie weiß: Viele der Heimbewohner lebten nur noch fürs Essen und für die Besuche. „Wenn sie keinen Besuch mehr bekommen, nicht mehr zum Spaziergang raus können, trifft sie das hart, denn die Selbstbestimmung wird im Alter ohnehin immer weniger.“ Und: „Manche, die den sozialen Kontakt brauchen, um nicht zu sehr in die Demenz abzudriften, leben jetzt ganz in ihrer Welt.“ Ein großes Problem.
Auch für die Angehörigen – sie wüssten nämlich häufig nicht, ob sie ihre Lieben wiedersehen. Und falls doch: in welchem Zustand? Sogar die Abschiedskultur leide unter dieser Vorschrift. „Bei Sterbenden haben wir sonst oft Familien zu Besuch – jetzt darf nur einer kommen“, erzählt Bergmann. Im Sinne einer guten „end of life care“ sei das nicht. Ein Ende der Krise ist aber nicht absehbar.
Ähnliches erlebt Pfarrerin Edith Öxler, die für das Dekanat München die Altenheimseelsorge koordiniert. Ihre 32 ehrenamtlichen Seelsorgebegleiter, die jetzt nicht mehr in die Heime dürfen, versuchten durch Telefonate und handgeschriebene Briefe den Kontakt zu den Bewohnern zu halten. „Manche leiden extrem darunter, dass ihre Angehörigen nicht mehr kommen können“, erzählt sie. Menschen mit Demenz wiederum seien die Zusammenhänge zwar kaum zu vermitteln. Aber: „Die merken vielleicht nicht, dass die Tochter drei Wochen nicht da war – sie vermissen jedoch, dass sie jemand in den Arm nimmt.“
Selbst die Pfleger versuchen – so gut es geht – auf Distanz zu gehen. Die Gesamtsituation ist für sie ohnehin höchst belastend, sagt Theologin Bergmann: „Ihre Hauptangst ist, dass sie etwas einschleppen könnten, wodurch dann Bewohner zu Tode kommen.“ Zentrale Aufgabe sei momentan, die Hygienebedingungen in den Heimen so zu gestalten – „dass sich alle einigermaßen sicher fühlen können“.
Das Besuchsverbot sei in diesen Zeiten das Gebot der Stunde. Theologin Bergmann sagt: „Je mehr Externe in den Häusern aus und eingehen, desto mehr Menschen können sich mit dem neuartigen Coronavirus anstecken.“ Durch das Besuchsverbot minimiert sich dieses Risiko. Und: Je weniger Menschen dadurch intensivmedizinische Betreuung benötigten, desto länger bleibe das Gesundheitssystem arbeitsfähig. Deshalb sei die höchste Priorität der Schutz der Bewohner vor einer Infektion: „Das System zu entlasten, das ist eine gesellschaftliche Aufgabe – und dazu müssen, selbst wenn es sehr hart ist, auch unsere alten Menschen ihren Beitrag leisten“, findet die Theologin.
Den ersten positiv getesteten Bewohner meldete die „Hilfe im Alter“ übrigens am vergangenen Freitag: Ein 81-jähriger Bewohner aus Dachau habe sich mit dem Virus infiziert. Er sei bislang ohne Symptome. Der Befund von 20 weiteren vorsorglich getesteten Bewohnern der gleichen Station sei negativ ausgefallen. „Ich glaube aber nicht, dass das der letzte Fall gewesen sein wird“, sagt Geschäftsführer Spohd.