In den vergangenen Wochen saß ich stundenweise als Freiwillige am Corona-Krisentelefon des Bunds Deutscher Psychologen. Auch viele Senioren rufen dort an. Anfangs ging es in den Gesprächen viel um die Angst vor der Krankheit selbst, um Fragen zur Prävention, teilweise auch um die Sorge, die Grundversorgung könne zusammenbrechen. Mittlerweile – gut zwei Monate später – ändert sich der Tenor. Ein Aspekt spielt nun eine zunehmend größere Rolle in den Anrufen: der Wunsch nach Selbstbestimmung.
Meine älteren Gesprächspartner gehörten dabei keineswegs zur Gruppe der Wutbürger, die darauf bestehen, die vorgeschriebene Alltagsmaske im Supermarkt sei ein unzulässiger Eingriff in ihre Grundrechte. Auch nicht zur Gruppe der Aluhut-Träger, die hinter der Corona-Krise einen chinesischen Biowaffen-Angriff oder eine Verschwörung der Gates-Impf-Industrie vermuten. Sie waren sich ihrer Situation als Risikopatienten wohl bewusst. Und sie schätzten auch die allseitigen Bemühungen sehr, die ja vor allem zu ihrer Sicherheit ergriffen wurden.
Ein Zitat von Lothar Hüther bringt das Anliegen, das diesen Anrufern dennoch auf der Seele brannte, wunderbar auf den Punkt: „Das Optimum liegt nicht immer im Extrem.“ Kontaktbeschränkungen aller Art sind derzeit ohne Zweifel ein wichtiger und sinnvoller Schutz für die körperliche Gesundheit von Senioren. Aber was ist mit ihrer seelischen Gesundheit? Die ist bei vielen durch die erzwungene Abschottung allmählich nahezu ebenso bedroht wie ihre physische durch das Virus.
Das Gefühl der Isolation begünstigt die Entstehung von Depressionen und Angstzuständen, das ist in der psychologischen Forschung gut belegt. Und dass positive Sozialkontakte in jedem Alter der wichtigste Baustein von Glück und Lebenszufriedenheit sind, wissen Sie als treue LeserInnen dieser Kolumne ohnehin. Sehr nachdenklich gemacht hat mich die Aussage einer Anruferin: „Was nützt mir denn meine Gesundheit, wenn ich meine Enkel nicht mehr sehen darf? Wofür soll ich dann noch hundert werden wollen?“ Ich habe mittlerweile mit vielen älteren Menschen gesprochen, die ähnlich dachten. Die angesichts der aktuellen Lage längst bereit wären, ein überschaubares Infektionsrisiko billigend in Kauf zu nehmen, im Austausch für wieder etwas mehr soziale Interaktion. Nicht nur mit den Enkeln, auch mit all den anderen Menschen, die ihr Leben lebenswert machen.
Ihr Umfeld aber widersetzt sich aus lauter Sorge diesem Wunsch vehement und beharrt weiter auf virtuellem Kontakt. Und übersieht dabei erstens, dass es besonders im höheren Alter um eine gute Balance zwischen Lebensquantität und Lebensqualität geht. Und vergisst zweitens, die Senioren selbst nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu fragen und diese dann auch zu respektieren. Denn Risikogruppe hin oder her – es ist ja nun nicht davon auszugehen, dass sämtliche Mitmenschen jenseits der 60 über Nacht plötzlich ihre geistige Gesundheit und damit das Recht auf eigenständige Entscheidungen eingebüßt hätten.
Nein, dies ist kein Plädoyer für unkontrollierte Ü-70-Corona-Partys. Natürlich ist Vorsicht weiterhin geboten, wenn man zur Risikogruppe gehört. Aber ich ermutige Sie schon, liebe Leserinnen und Leser, Ihr besorgtes Umfeld bei Bedarf mal an Artikel 2 im Grundgesetz zu erinnern. Und Ihren ganz individuellen „Wohlfühlpunkt“ auf dem Kontinuum zwischen absolutem Schutz und absoluter Isolation auch immer wieder sehr sorgfältig selbst (!) neu zu bestimmen.
Die renommierte Diplom-Psychologin und Buchautorin schreibt, warum soziale Kontakte in der Corona-Krise wichtig sind – selbst wenn man zur Risikogruppe jenseits der 60 gehört. Ja, Vorsicht sei geboten. Aber jeder müsse auch seinen individuellen „Wohlfühlpunkt“ finden.