Ursula Lehr, Pionierin der Alternsforschung, CDU-Politikerin und ehemalige Bundesfamilienministerin, wird übermorgen 90 Jahre alt. Die Autorin des Standardwerks „Psychologie des Alterns“ gründete 1986 das Institut für Gerontologie an der Universität Heidelberg und 1995 das Deutsche Zentrum für Alternsforschung (DZFA). Sie ist bis heute eine gefragte Expertin.
Sie werden am Freitag 90 Jahre alt. Salopp gefragt: Wie ist Ihnen das gelungen?
Ich habe immer gehofft, die Jahrtausendwende zu erleben. Nun sind 20 Jahre dazugekommen – ein Geschenk. Ich ernähre mich halbwegs gesund, bin körperlich und geistig aktiv. Ich hatte immer viel zu tun und nie viel Zeit für Privates. Nur jetzt in der Corona-Krise hat man Zeit.
Andere wollen im Ruhestand abschalten…
… bei mir fing die Arbeit noch mal richtig an! Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisation, die BAGSO, trug mir 2009 den Vorsitz an.
Und wie geht es Ihnen jetzt?
Relativ gut. Vor zwei Jahren zog ich mir bei einem Sturz einen Oberschenkelhalsbruch zu. In dem Jahr habe ich aber 108 Flüge absolviert. 2019 waren es 38. Auch für 2020 hatte ich viele Termine.
Wo geht der Blick hin mit 90? Mehr zurück in alte Zeiten – oder nach vorne zum nächsten Projekt?
Solange es geht, widme ich mich neuen Aufgaben – wohl wissend, dass jederzeit Schluss sein kann. Mit Ausnahme meiner Gehbehinderung fühle ich mich wohl. Ich bin froh, nur mit einer Krücke davongekommen zu sein. In der Reha riet man mir, Pflegegeld zu beantragen. Aber ich war doch in der Reha, um nicht pflegebedürftig zu werden! Ich will möglichst selbstständig sein.
Sie haben ein umfängliches Leben. Wo haben Sie den stärksten Impuls setzen können?
In der Alternsforschung. Zu Beginn meines Psychologie-Studiums dominierte die Theorie, dass sich Menschen nur bis zum Alter von 25 Jahren weiterentwickeln – und es ab 45 wieder abwärts geht. Mein Lehrer Hans Thomae stellte das infrage. Seine Erkenntnis: Entwicklung heißt nicht nur Entfaltung von Anlagen, sondern Veränderung. Und die Veränderung umfasst sowohl die Zu- als auch die Abnahme von Fähigkeiten. Alt werden ist also ein sehr vielschichtiger Prozess. Dies war und ist im Zentrum meiner wissenschaftlichen Tätigkeit.
In der Corona-Krise gilt Ihre Altersklasse als besonders gefährdet. Waren die Besuchsverbote in den Pflegeheimen richtig?
Es war nicht übertrieben, vorsichtig zu sein. Wenn Menschen im Alter angesteckt werden, kann es sie hart treffen. Aber das darf nicht zur dauerhaften Isolation führen.
Junge Menschen überwinden Kontaktverbote mit digitalen Medien. Senioren sind dagegen mitunter von der Online-Kommunikation oft ausgeschlossen.
Das ist traurig. Die BAGSO versucht, auch Älteren die Videotelefonie beizubringen. Ich habe einmal eine Altenheimbewohnerin kennengelernt, die sich mit 94 von ihrem Enkel das Skypen beibringen ließ. Die neue Technik ist also auch etwas für alte Menschen.
Setzt die Gesellschaft im ausreichenden Maße auf die Kompetenzen älterer Menschen?
Leider nein. Die größte Gefahr ist, Ältere betreuen zu wollen, obwohl sie noch selbstständig agieren können. Daran kann man sich ja gewöhnen. Das erlebe ich jetzt selbst in der Corona-Zeit. Wegen der Ansteckungsgefahr erledigen meine Söhne meine Einkäufe. Das finde ich ganz bequem. Aber verdammt noch mal, ich will das nicht aufgeben!
Sie haben sich auch mit der Berufstätigkeit der Frau befasst. In der Corona-Krise klagen viele Mütter über ihre Doppelbelastung durch Home-Office und Kinderbetreuung.
Ich kann sie gut verstehen – und hoffe, dass sie bald wieder Entlastung erfahren. Wie selbstverständlich heute die Kinderbetreuung ist. Vor 30 Jahren forderte ich als Bundesfamilienministerin, Kitas schon für Zweijährige zu öffnen, und bekam böse Briefe. Die schlimmsten übrigens von Menschen, die sich als Katholiken bezeichneten. Aber ich hatte nichts zurückzunehmen. Denn Forschungen von Jean Piaget, des Schweizer Pioniers der Entwicklungspsychologie, belegen, dass bereits Zweijährige die Fähigkeit haben, außerhalb der Familie zu spielen und sich wohlzufühlen. Sie wissen, dass sie wieder zurückkommen. Und: Kinder brauchen andere Kinder für ihre Entwicklung.
Wie haben Sie Ihren Ausflug in die Politik erlebt?
Die Frage von Helmut Kohl, 1988 als Nachfolgerin von Rita Süssmuth Familienministerin zu werden, kam für mich völlig überraschend. Er suchte jemanden, der etwas vom Alter versteht und die Seniorenpolitik vorantreibt. Erst wollte ich nicht, weil ich nur ein halbes Jahr zuvor mit dem Aufbau der Gerontologie in Heidelberg begonnen hatte. Schließlich sagte ich zu – aber nur für den Rest der Legislaturperiode.
Der politische Betrieb ist etwas anderes als der Hochschul-Betrieb …
Allerdings. In der Wissenschaft hatten Frauen es schon geschafft, anerkannt zu werden – damals aber noch nicht so sehr in der Politik. Allerdings musste ich mich in meinen Anfangsjahren als Wissenschaftlerin auch ziemlich durchsetzen.
Erzählen Sie.
Ich war 1968 an der Philosophischen Fakultät Bonn die erste Frau, die sich habilitiert hat. Einige Kollegen hatten damit große Schwierigkeiten. Da hieß es dann: Warum wollen Sie sich denn überhaupt habilitieren, Sie sind doch verheiratet? Und auf größtes Entsetzen stieß, dass ich einen Doktortitel hatte, mein Mann aber nicht. Während sonst bei der Habilitation vier bis fünf Gutachter üblich waren, hatte ich gleich zwölf. Auch bei meiner mündlichen Prüfung waren weit mehr Professoren da als sonst. Und das nur, weil eine Frau antrat!
Hatten Sie das Gefühl, in der Politik etwas bewegen zu können?
Unterschiedlich. Mein Wunsch, einen Altenbericht zu erstellen, stieß im Kabinett zunächst auf Widerspruch. Da sagte Kohl: Wir haben schon fünf Familienberichte und acht Jugendberichte; da ist es sicher wertvoll zu wissen, wie die Lage der Älteren ist. Der Initiative haben sämtliche Parteien im Bundestag zugestimmt. Und nach dem ersten Zwischenbericht forderten sie – ebenfalls einstimmig – einen Altenbericht in jeder Legislaturperiode.
Ihr Geburtstag fällt in die Corona-Zeit. Hätten Sie sich einen solchen Lockdown jemals vorstellen können?
Nein. Dass die Kirchen geschlossen wurden, gab es nicht einmal im Krieg oder in der Nazizeit.
Fällt die Geburtstagsfeier nun aus?
Ich hätte gerne wie bei meinem 80. Geburtstag für Familie, Freunde und Kollegen ein Rheinschiff gechartert. Das verschieben wir jetzt auf den 91.
Interview: Andreas Otto