Rund eine halbe Million Menschen – so viele werden jedes Jahr mit einer Diagnose konfrontiert, die ihre Welt mit einem Schlag zertrümmert. „Sie haben Krebs.“ Dieser eine Satz hat die Kraft einer Abrissbirne. Ein K.-o.-Schlag, nach dem sich Betroffene und Angehörige erst aufrappeln müssen – um sich eine ganz neue Welt aufzubauen.
Denn: „Das Leben geht weiter – auch mit Krebs.“ Das musste die Hamburgerin Verena Sam, 37, erst lernen. Topfit, gesundheitsbewusst und 35 Jahre jung erkrankte sie im Sommer 2018 an Brustkrebs (siehe Kasten). Aus der jungen Fitnesstrainerin wurde plötzlich eine „Palliativpatientin“ – unheilbar krank. Begriffe, die ihr Mann Achim nicht mag; weil darin die Vorstellung stecke, es gebe nichts zwischen Heilung und Tod. „Das stimmt nicht“, sagt er – und seine Frau ist das beste Beispiel dafür. Gemeinsam lernten sie, mit der Erkrankung zu leben. Mit ihrem Buch „Der Krebskompass“ wollen sie anderen die Orientierung geben, die sie selbst gebraucht hätten. Hier eine Auswahl ihrer Tipps.
Den Krebs akzeptieren
Der Kontrast hätte größer nicht sein können: „Uns ging es damals wirklich gut“, erinnert sich Verena an die Zeit kurz vor der Diagnose. Der Krebs habe sie „komplett aus dem Leben gerissen“, erzählt sie. „Da stehst du auf einmal da – mit einer Lebenserwartung von maximal drei Jahren.“ Auch sie fragte sich: „Warum ich?“ Zumal Verena immer gesund gelebt hatte, topfit war und nicht rauchte. Verena lernte aber früh, den Krebs als Aufgabe zu sehen, die sie nun meistern musste – und diese Akzeptanz hilft, mit dem Krebs zu leben. „Ich wusste: Das wird kräfteraubend wie ein Marathon. Aber ich werde nicht aufgeben.“
Kein pauschaler Rat
„Was, das willst du essen? Bist du sicher, dass dir das guttut?“ Fragen wie diese hörte Verena anfangs oft – und häufig folgte bei ihr ein schlechtes Gewissen: War es wirklich eine gute Idee, Kuhmilch zu nehmen, weil es im Café keine Hafermilch gab? Unnötiger Stress, wie sie heute weiß. „Ich musste lernen, mit solchen Ratschlägen umzugehen.“ Achim warnt: „Damit überfordert man Patienten nur noch mehr.“ Das gilt auch für einen anderen Klassiker: „Meiner Tante hat damals diese Therapie geholfen, vielleicht auch dir.“ Doch Krebs sei eine „hochindividuelle Erkrankung“, erklärt Achim. Wie diese verläuft, was guttut und was schadet, sei bei jedem anders.
Die richtige Klinik
Für die Wahl der richtigen Klinik sollte man sich Zeit lassen. In zertifizierten Krebszentren arbeiten erfahrene Mediziner vieler Fachrichtungen zusammen, die sich in „Tumorboards“ über die Therapie jedes Patienten austauschen und neues Wissen einbeziehen. Aber: Expertise ist nicht alles. Die beste Klinik sei falsch, wenn man sich dort nicht gut aufgehoben fühlt, findet Achim. Es komme auch darauf an, wie man als Mensch behandelt werde. „Das Bauchgefühl ist wichtig“, sagt Verena. In der Hamburger Klinik, an die sich die beiden wenden, fühlte sie sich gleich wohl. „Ich wusste sofort: Hier bleibe ich.“
Genau nachfragen
Ärzte haben oft viel zu wenig Zeit für Patienten. In der Eile bleiben Fragen schnell unbeantwortet. Oft fällt einem erst hinterher ein, was man fragen wollte. Achims Tipp: Fragen aufschreiben und mit zum Gespräch nehmen. Da vier Ohren mehr hören als zwei, lassen sich Patienten dabei am besten begleiten. Wer nicht alles gleich versteht, sollte sich trauen, nachzufragen und sich alles genau erklären zu lassen.
Neue Wege wagen
Leitlinien dienen Ärzten als Richtschnur für die Wahl der Therapie. Doch die Medizin entwickelt sich weiter. Darum können sich auch experimentelle Therapien lohnen. So eine hat Achim am „Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen“ (NCT) in Heidelberg für Verena gefunden: Hier versucht man, dem Immunsystem auf die Sprünge zu helfen. Mit einer Art Impfung soll es lernen, Krebszellen zu attackieren. Verena hat das Konzept mehr überzeugt als eine klassische Chemotherapie. Sie ist sich aber bewusst, dass es keine Garantien gibt. Ein solcher Schritt braucht Mut – und ist nicht für alle der richtige Weg.
Ausgewogen essen
Sich gesund zu ernähren, ist stets wichtig – bei Krebs aber noch mehr. Das wusste Ernährungsexperte Achim natürlich und kam trotzdem an Grenzen. „Ich stand im Supermarkt und hatte Tränen in den Augen – weil ich nicht wusste, was ich für sie kaufen soll.“ Pflanzliches wie Selleriesaft, Kohl und Knoblauch sollten es sein. Er bestellte teure Säfte, einen Mixer für 2000 Euro. Doch die Kohl- und Knoblauchmassen raubten Verena nur den Schlaf – und Achim dachte um. Heute weiß er: Wirklich sinnvoll ist nur „eine gesunde Mischkost, mit breiter Farbpalette“ – von Tomatenrot bis Gurkengrün. Auch Verena lernte, „die Ernährung nicht als Heilmittel zu sehen, sondern als Unterstützung für Therapie und Körper“. Auch die Menge macht’s: Verena ernährt sich großteils vegan, gönnt sich selten aber auch Fleisch oder Fisch – und das genießt sie ohne schlechtes Gewissen.
Aktiv bleiben
Verena war vor ihrer Erkrankung topfit, arbeitete als Fitnesstrainerin. Nach der Diagnose rieten ihr Ärzte, sich beim Sport mehr zurückzuhalten, sich zu schonen und auszuruhen. Verena hielt sich nicht daran. „Ich brauche Bewegung – körperlich und auch mental“, sagt sie und erfuhr erst später, dass sie intuitiv das Richtige tat. Heute weisen selbst medizinische Leitlinien darauf hin, wie wichtig Sport und Bewegung sind. „Sie wirken sich nachweislich positiv aus“, sagt Achim. Der Stoffwechsel werde angeregt, Nebenwirkungen reduziert. Verena, die es gewohnt war, Vollgas zu geben, lernte dabei, mehr auf ihren Körper zu hören – und das nicht, weil sie nicht mehr konnte. „Meine Einstellung hat sich geändert.“ Statt Gewichtetraining darf es heute auch mal Yoga oder Radfahren sein. Besonders an Tagen, an denen sie ihre monatlichen Spritzen in Bauch und Po bekam, die Antihormontherapie. „Wenn ich mich am gleichen Tag bewege, geht’s mir in den nächsten Tagen besser“, sagt sie. „Sonst habe ich mehr Nebenwirkungen.“