„Ein großes Glück“

von Redaktion

VON DORITA PLANGE

Jahrzehntelang sieht er die Welt nur aus einer Perspektive: die des Rollstuhlfahrers. Das ist der unabänderliche Alltag von Betriebswirt Christian Löhr (50); von Geburt an spastisch gelähmt. Als Löhr 1997, da ist er 23 Jahre alt, auf ein Pferd gehoben wird, ist dies einer der bewegendsten Momente seines bisherigen Lebens. „Mir stiegen die Tränen in die Augen“, erzählt er. Aber nicht nur vor Rührung. „Ehrlich gesagt auch vor Schmerzen – die Spastiken in den Beinen taten extrem weh.“ Nach diesem ersten Ritt rät ihm seine Ärztin allerdings von der Hippotherapie, dem Reiten für Behinderte, ab. Er bleibt dennoch dran.

Heute ist die Gemeinschaft auf dem Straußenhof in Waakirchen (Kreis Miesbach), wo Löhr einmal pro Woche „reitet“, ein unverzichtbarer Teil seines Lebens: „Diese 20 Minuten auf dem Pferd sind essenziell wichtig. Ich kann meine versteifte Muskulatur mal wirklich durchstrecken, mich aufrichten, tief durchatmen – und mich selbstständig im Raum bewegen. Kein Sportgerät kann das ersetzen.“ Die Spannung in den Beinen habe nachgelassen, zudem der Husten wegen des ständigen Sitzens. „Und mein räumliches Sehen hat sich verbessert“, sagt Löhr. Er sagt aber auch: „Mit all diesen Menschen und Tieren in dieser traumhaften Landschaft – das ist für mich ein großes Glück.“

Die Hippotherapie wird stets vom Arzt verordnet und von Physiotherapeuten umgesetzt. Ihr Nutzen ist wissenschaftlich belegt: Im Schritttempo überträgt das Pferd 90 bis 110 Bewegungsimpulse pro Minute auf den menschlichen Körper – und stärkt somit Muskeln, Wirbelsäule, Atmung, Herz, Kreislauf, Koordination und in hohem Maße auch die Psyche. Die Patienten sind Menschen, die zum Teil an unheilbaren Krankheiten leiden, etwa multiple Sklerose, Querschnittslähmung, den Folgen von Schlaganfällen oder – so wie Löhr – an spastischen Lähmungen.

Tatsächlich liegt es aber nicht nur an der Bewegung, sondern es ist vor allem auch die Nähe, die Wärme, diese bedingungslose Freundschaft eines großen, freundlichen Tieres, was diese spezielle Form der Physiotherapie so besonders macht. Seit nunmehr 33 Jahren stellt Familie Six ihr Wissen in den Dienst des Therapeutischen Reitens für Menschen mit psychischen und physischen Erkrankungen. 1986 übernahmen Bruno (74) und Theresia Six (72) den Straußenhof als Therapieeinrichtung, zusammen mit dem gemeinnützigen Verein Therapeutisches Reiten Oberland e.V. Tochter Josepha Brünner (49) war damals erst 16 Jahre alt – und traf eine Entscheidung fürs Leben: Sie wurde Physio- und Hippotherapeutin, mit Schwerpunkt für neurologische Erkrankungen.

In all den Jahren durfte sie so manch kleines Wunder erleben: „Ein autistisches Kind, das mit niemandem mehr sprechen wollte, fing auf dem Pferd plötzlich an zu reden. Das war ein unglaubliches Gefühl!“, erzählt sie. Und auch die Pferde sind sich ihrer Verantwortung offenbar bewusst: „Sie konzentrieren sich, laufen gleichmäßig, treten vorsichtiger auf. Das zu beobachten, ist sehr berührend.“ Sieben Therapiepferde – vom Haflinger bis zum Kaltblüter – leben auf dem Straußenhof. Und sie alle „müssen gelehrig, geduldig, in jeder Weise belastbar sein und einen raumgreifenden Schritt haben“, sagt Brünner.

Denn Sicherheit hat in der Therapie Priorität: Ein Lift lässt körperlich Behinderte sanft auf den Pferderücken hinab. 20 intensive Minuten werden die Patienten hoch zu Ross von einem Team aus ehrenamtlichen Helfern und einer Hippotherapeutin im Schritttempo geführt, zu Übungen animiert, ermuntert, bewusst die körperliche Nähe zum Pferd zu spüren.

Therapeutin Brünner war es auch, die damals Löhr ermunterte weiterzumachen. Sie sagte: „So schnell geben wir nicht auf!“ Auf einem sogenannten Military-Sattel fand Löhr schließlich den besten Halt. „Und von da an ging’s bergauf“, erzählt er.

Überhaupt ist Löhr ein Kämpfer: 1970 kommt er im siebten Monat zur Welt. Eine Verkettung fataler Behandlungsfehler führt dazu, dass der Bub irreversible spastische Lähmungen an Armen und Beinen davonträgt. „Er wird nie lesen, schreiben und selbstständig leben können“, sagen die Ärzte damals. Doch sie machen die Rechnung ohne Löhr. „Ich hatte zwei Möglichkeiten“, erzählt er heute: „In Depressionen zu versinken. Oder zu kämpfen.“ Löhr kämpft.

Er absolviert die Fachhochschulreife und macht den Führerschein, dann studiert er BWL, arbeitet zehn Jahre für eine Unternehmensberatung, wird dann vom Sozialministerium abgeworben. Auch privat läuft es gut: Seit rund 20 Jahren ist er mit seiner Lebensgefährtin Christine (50) glücklich liiert, einer Physiotherapeutin – die sich wie Löhr auf dem Straußenhof mehr als wohlfühlt.

Mehr Informationen

zum therapeutischen Reiten gibt es im Internet unter: www.therapeutischesreiten-oberland.de; 20 Min. kosten 40 Euro – ein Preis, der nur zu halten ist, weil Institutionen, Stiftungen und private Spender den Verein unterstützen und Kliniken aus dem Umland ihre Patienten überweisen.

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