Corona: Keine Angst vor der Krebstherapie

von Redaktion

VON ANDREA EPPNER

Krebspatienten standen im Frühjahr vor einer doppelten Herausforderung: Bei einigen war die Diagnose noch ganz frisch. Sie waren gerade erst dabei, sich von dem Frontalangriff auf ihre Psyche zu erholen. Da folgte schon die nächste Attacke, diesmal aus Asien. Eine Infektionswelle mit einem neuen Virus rollte heran. Ein Erreger, von dem keiner so genau wusste, wie gefährlich er ist. Dazu kamen verstörende Bilder; erst aus dem fernen China, wenig später aus dem nahen Italien.

„Die Infodemie in den Medien, aber auch unser eigenes Bemühen sehr vorsichtig zu sein, hat die Patienten stark verunsichert“, erinnert sich Prof. Michael von Bergwelt, Onkologe, Infektiologe und Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Viele seien zunächst einfach nicht mehr gekommen.

Aber auch für die, die sich noch in die Kliniken wagten, waren die Veränderungen enorm: Um Kapazitäten für Corona-Patienten frei zu halten, musste man planbare Operationen verschieben. Und: „Wir haben geschaut, welche Chemotherapien sind sofort notwendig – und welche kann man gegebenenfalls hinauszögern“, sagt von Bergwelt. Zurückblickend habe das Gesundheitssystem „übervorsichtig“ reagiert, sagt er. „Aber hinterher ist man immer schlauer.“ Und: „Wir wussten zunächst überhaupt nicht, was da auf uns zu kommt. Wir haben gedacht, wir werden von einer großen Welle überrannt.“

Heute weiß man es besser. Die Masse an Tests hat die anfangs große Dunkelziffer zum Schrumpfen gebracht. Inzwischen gehe man von einer Sterblichkeit „deutlich unter einem Prozent“ aus, sagt von Bergwelt. Vor allem aber hat man gelernt, mit dem Virus umzugehen. Im Alltag, aber auch in Praxen und Kliniken.

Das Wissen um das neue Virus wuchs so schnell, dass der Onkologe heute so gut wie keinem Tumorpatienten mehr nur aufgrund von Corona von einer Therapie abraten würde. „Wir können Krebspatienten sicher begleiten und behandeln.“

Zumal viele von ihnen gar kein höheres Risiko für eine Infektion haben, wie Prof. Ulrike Protzer, Leiterin des Instituts für Virologie der Technischen Universität (TU) München am Klinikum rechts der Isar in München, beruhigt. Wie leicht sie sich mit dem neuen Coronavirus anstecken können, hänge vor allem davon ab, wie exponiert jemand sei. Also: Wie viele Kontakte er habe, wie eng und wie lang diese sind und ob man dabei Maske trägt. Das Infektionsrisiko sei mit und ohne Tumor gleich, der Krankheitsverlauf könne sich aber eventuell unterscheiden.

Und: Es gebe Therapiephasen, in denen Patienten Probleme haben können, das Virus wieder loszuwerden. Etwa während einer Chemotherapie. Diese lässt vorübergehen die Zahl der Abwehrzellen sinken. Ist diese sehr niedrig, „ist man grundsätzlich für jeden Infekt empfänglicher“, sagt Protzer. „Patienten sollten dann vorsichtiger sein.“ Wer in einer solchen Phase in die U-Bahn steigt oder einkaufen geht, sollte sich „die Sicherheit einer teureren, aber dichteren FFP2-Maske gönnen“, sagt von Bergwelt. Und Stoßzeiten wenn möglich meiden. Danach unbedingt Hände waschen oder desinfizieren.

Ansonsten gelten für Krebspatienten im Prinzip die gleichen Regeln wie für Gesunde, erklärt die Virologin. Eineinhalb bis zwei Meter Abstand von anderen halten. Händehygiene. In Bus, Bahn und beim Einkaufen Maske tragen. Von Bergwelt rät dabei zu einem einfachen medizinischen Mund-Nasen-Schutz. Diese mehrlagigen OP-Masken seien inzwischen wieder gut und günstig zu haben. Von waschbaren Masken oder gar dem hochgezogenen Kragen hält er weniger. Auch sie schützten andere, der Eigenschutz ist aber nicht gesichert.

Denn auch wenn solche Masken eine Infektion nicht immer verhindern könnten, senkten sie die Virusdosis, die man abbekommt. Und weniger Virus am Anfang führt wahrscheinlich zu einem milderen Verlauf. „Das gibt dem Immunsystem Zeit zu reagieren.“ Für ihn sind diese Masken mit Blick auf ihren günstigen Preis eine der effektivsten Maßnahmen.

Die Maskenpflicht gilt natürlich auch für onkologische Stationen. Wer in solchen Risikobereichen arbeitet, wird regelmäßig auf das Coronavirus getestet, sagt von Bergwelt. „Und gegen die Grippe geimpft“, ergänzt Protzer. Sich gegen Influenza und Pneumokokken impfen zu lassen, empfiehlt sie übrigens auch Krebspatienten selbst. Besuch sollten diese am besten draußen oder im Klinik-Café empfangen, rät von Bergwelt. In großen Räumen und an der frischen Luft sei das Infektionsrisiko geringer. Geht das nicht, sollte man Maske tragen und gut lüften.

Wichtig auch: „Für die meisten stellt eine Coronavirus-Infektion kein größeres Risiko dar“, beruhigt Protzer. Studien zeigten, dass eine Tumorerkrankung das Risiko für einen schweren Verlauf nur minimal erhöhe. Wenn es bei Krebspatienten dennoch zu einem schweren Verlauf kommt, liegt es meist daran, dass häufig ältere Menschen betroffen sind; oder solche mit anderen Risikofaktoren: wie dem Rauchen, das die Lunge vorbelastet.

Doch was ist mit denjenigen, die im Frühjahr trotz Beschwerden erst mal abgewartet haben? Vereinzelt war aus Medizinerkreisen zu hören gewesen, man habe mehr Patienten mit späteren Stadien gesehen. Von Bergwelt kann diese Erfahrung nicht bestätigen – wenngleich auch er mit einer minimalen Verschiebung rechnet. Belastbare Daten für Deutschland gebe es dazu aber nicht. Und: Anders als bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, wo jede Sekunde zählt, wachsen viele Tumoren langsam. Wer in der Hochphase der Pandemie gewartet und sich erst danach in die Klinik getraut hat, muss sich wohl nicht sorgen, entscheidende Tage verloren zu haben.

Ähnliches gilt für alle, die im Frühjahr Untersuchungen zur Früherkennung erst mal vertagt haben. Die sollte man jetzt aber schnell nachholen, raten beide Experten. „Das Risiko, den Krebs nicht oder nicht früh genug zu erkennen, ist mindestens genauso groß wie das Risiko, sich anzustecken“, sagt Protzer. Man solle nicht „durch übertriebene Vorsicht andere Schäden verursachen“.

Dass das passieren kann, zeigen Daten aus Nordamerika. Experten des National Cancer Institutes (NCI) prognostizieren in einer Untersuchung, dass es in den USA zu mindestens 10 000 zusätzlichen Todesfälle allein durch ausgefallene Brustkrebs- und Darmkrebs-Früherkennungen kommen könnte. Dort dauerte der „Lockdown“ mit rund drei Monaten aber auch deutlich länger. Und das Virus wütet weiter.

Hierzulande ist die Lage trotz steigender Infektionszahlen deutlich entspannter. „In Deutschland haben wir das recht gut im Griff“, findet Protzer. Man sollte nicht panisch werden, wenn die Zahlen jetzt ein wenig ansteigen. Sich aber auch immer wieder bewusst machen, dass das Virus nicht weg ist. „Man kann es weder wegreden noch wegtesten.“ Doch hätten die meisten inzwischen für sich selbst einen „balancierten Weg zwischen Hysterie und Unvorsichtigkeit“ gefunden.

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