„Irgendwas stimmt nicht“, sagt meine neue Klientin zu mir. „Objektiv betrachtet, müsste ich glücklich sein. Aber ich bin es nicht. Warum bloß?“ Sie ist Ende fünfzig, verheiratet, hat lange in einem gut bezahlten Job gearbeitet, der sie aber irgendwann nicht mehr richtig befriedigte.
Vor drei Jahren hat sie sich eine Auszeit genommen, um herauszufinden, ob sie weiterarbeiten, gleich in Rente gehen oder noch mal was ganz anderes ausprobieren will. Einen Entschluss hat sie noch nicht gefasst. Finanziell ist sie schon jetzt gut abgesichert, sie hatte es deshalb mit der Entscheidungsfindung auch nicht eilig. Eigentlich tatsächlich beneidenswert – so viel Freiheit.
Langeweile hat sie nicht. Haus und Garten machen viel Arbeit. Ihre älteste Tochter freut sich über einen immer abrufbaren, kostenlosen Babysitter. Auch ihre betagte Mutter hat sich schnell daran gewöhnt, dass ihre Tochter plötzlich jederzeit für ihre Aufträge verfügbar ist. Der Ehemann genießt es ebenfalls, dass seine Frau ihm nun mehr Erledigungen abnimmt als früher. „Ich verstehe kaum, wie ich früher überhaupt Zeit zum Arbeiten gefunden habe!“ Sie sagt es mit einem traurigen Lächeln.
Ich stelle ein großes Glas vor sie hin und gebe ihr eine Schachtel Tischtennisbälle. „Das leere Glas symbolisiert jetzt mal das Zeitvakuum, das nach dem Job-Ausstieg in Ihrem Leben entstand“, sage ich. „Jedes Vakuum will aber gefüllt werden. Also machen Sie das doch mal. Jeder Tennisball steht für etwas, das Ihnen persönlich wirklich wichtig ist: eine Aktivität, ein Lebensziel, eine Beziehung. Wie viele Bälle passen ins Glas?“
Schnell ist sie fertig. „Jetzt ist es voll“, sagt sie. „Echt?“, frage ich zurück, und drücke ihr ein Säckchen Murmeln in die Hand. Sie lacht: „Na, von denen passen natürlich noch viele in die Zwischenräume!“ „Gut“, sage ich, „rein damit! Die Murmeln symbolisieren all die Sachen, von denen andere Leute gern hätten, dass Sie sie tun – jetzt, wo Sie doch so viel Freizeit haben!“
Nachdenklich geworden, schüttet sie einen Großteil der Murmeln ins Glas und dreht dieses hin und her, bis sie sich überall verteilt haben. „Okay, nun ist es aber wirklich voll“, meint sie. „Glaub ich nicht“, antworte ich und hole aus meiner Schublade ein Päckchen Vogelsand. Sie schaut zu, während ich ein gutes Drittel des Sandes ins Glas rieseln lasse. Er füllt mühelos die noch verbliebenen kleinen Freiräume darin. „Der Sand steht für den ganzen Rest im Leben“, sage ich, „den unvermeidlichen Alltagskram. Der mogelt sich eh überall dazwischen.“
Meine Klientin sieht mich fragend an. Ich sage: „Hätte ich Ihnen die Zutaten in umgekehrter Reihenfolge gegeben, wäre das Glas schon mit dem Sand im Nu fast voll gewesen. Ein paar Murmeln hätten Sie vielleicht noch reinquetschen können, aber die Tennisbälle nicht mehr. Ich denke, ähnlich ist es Ihnen mit Ihrem Zeitvakuum nach dem Jobausstieg auch gegangen: Sie hatten damals noch keine klare Vorstellung davon, für welche neuen, wichtigen Dinge in Ihrem Leben Sie damit Platz schaffen wollten. Aber so ein Vakuum ist heimtückisch. Füllt man es nicht gezielt und aktiv, dann füllt es sich ganz von alleine: mit Sand. Das, was wirklich zählt – für das ist plötzlich kein Platz mehr übrig. Und das macht dann unglücklich.“
Sie nickt. „Eigentlich müsste man das jedem vorab sagen, der aus dem Beruf ausscheidet, egal wann“, findet sie. „Damit die Leute sich vorher überlegen, was sie mit der freien Zeit anfangen wollen – nicht erst hinterher.“ „Gute Idee“, antworte ich. „Mache ich mal gleich in meiner nächsten Kolumne.“
Die renommierte Diplom-Psychologin und Buchautorin schreibt darüber, warum man schon vor dem
Ruhestand überlegen sollte, wie man diese neue
Freiheit sinnvoll für sich nutzt – und warum es sogar
unglücklich machen kann, wenn man das nicht tut.