GLÜCKSFITNESS – DAS SCHÖNSTE GEFÜHL IM BESTEN ALTER

Wunden, die die Zeit nicht heilt

von Redaktion

Recht selten suchen Menschen jenseits der 70 meine Praxis auf. Die Dame, die mir heute gegenübersitzt, stellt eine ziemliche Ausnahme dar, denn sie ist 1941 geboren (auch wenn man ihr das nicht anmerkt). Sie ist eine lebhafte, an vielen Dingen interessierte Frau, noch gar nicht so lange in Rente. Von ihrer langjährigen Ehe spricht sie mit ebenso viel Wärme in der Stimme wie von ihren vier Enkelkindern – ein gelungenes Leben.

Umso weniger versteht sie, warum sie seit einem Routineeingriff vorKurzem unter Panikattacken leidet und immer wieder „in tiefe schwarze Löcher fällt“, wie sie sagt. Zur Abklärung wiederkehrender Beschwerden hatte man bei ihr eine Blasenspiegelung durchgeführt. „Seither bin ich nicht mehr ich“, fasst sie es zusammen.

Bei unserer Spurensuche stoßen wir auf ein Ereignis in ihrem Leben, an das sie lange nicht gedacht hat: Mehr nebenbei erwähnt sie, dass sie mit elf Jahren von einem Mann überfallen und vergewaltigt wurde, als sie mit dem Rad am Waldrand entlangfuhr. Als sie tränenüberströmt heimkam, verpasste ihre Mutter ihr eine kräftige Ohrfeige und gab ihr die Schuld an dem Ereignis. Warum war sie nicht durch den Ort geradelt? Auch die Polizei hatte 1952 noch nicht viel Ahnung von Opferschutz. Ihre Zeugenbefragung verlief – gelinde gesagt – wenig einfühlsam. Danach wurde nie wieder über all das gesprochen.

Meine Klientin ist erst mal verwirrt über meine Reaktion auf ihren Bericht. Sie versteht gar nicht, warum mich der so erschüttert – das Ganze liegt doch ewig zurück! Was kann das im Hier und Jetzt noch für eine Bedeutung haben? Es braucht viele erklärende Worte meinerseits, bis sie realisiert, dass sie damals ein massives Trauma erlitten hat, das durch die unangemessenen Reaktionen im Umfeld noch verschlimmert und auch später niemals wirklich von ihr aufgearbeitet wurde.

Erstaunlich vielen Menschen, gerade aus der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, gelang es tatsächlich jahrzehntelang, solche und andere traumatischen Ereignisse in sich selbst quasi „wegzuschließen“– und trotzdem mehr oder weniger weiter zu funktionieren. Wie hätte es auch anders gehen können? Man brauchte schließlich all seine Kräfte für den Wiederaufbau und den Alltag mit all seinen Problemen und Herausforderungen. Und Konzepte wie psychotherapeutische Traumabehandlung schafften es ohnehin erst viel später, in Deutschland Akzeptanz zu finden.

Das ist umso tragischer, weil diese gerade hier so dringend gebraucht worden wären: 2008 bewies eine Studie zum Thema posttraumatische Belastungsstörung, dass in Deutschland signifikant mehr ältere Menschen davon betroffen sind als anderswo. Unter den Senioren finden sich hier bis heute überproportional viele Menschen, die von irgendeiner Traumaerfahrung berichten können – (Nach-) Kriegserlebnisse natürlich, aber auch andere Traumata wie Missbrauch, Gewalterfahrungen oder Unfälle.

Langsam begreift auch meine Klientin, dass da durch den medizinischen Eingriff im Intimbereich bei ihr sehr alte Emotionen und Ängste reaktiviert wurden, die mit diesem unverarbeiteten Geschehen verbunden sind. Und dass es an der Zeit ist, hier noch mal anzusetzen.

Die gute Nachricht: Dafür braucht es oft gar nicht viel. Die meisten Senioren verfügen dank ihrer großen Lebenserfahrung über so viele Ressourcen und Kompetenzen, dass ein wenig Hilfe bei der endgültigen Traumabewältigung völlig genügt. Doch diese Hilfe kann in Sachen Glück einen großen Unterschied machen – zögern Sie im Bedarfsfall also nicht. Es ist nie zu spät!

VON FELICITAS HEYNE

Die renommierte Diplom-Psychologin und Buchautorin schreibt über unverarbeitete traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend, die auch im Alter noch aufbrechen können – und wie man sie bewältigt.

Artikel 5 von 7