Haben Sie am vergangenen Sonntag auch die erste Kerze auf dem Adventskranz angezündet? Meinen habe ich wie jedes Jahr wieder bestückt: mit Kerzen, Tannengrün und einigen alten Porzellankugeln, die ich von meiner Mutter geerbt habe. Das ist für mich immer das wichtigste vorweihnachtliche Ritual überhaupt. Okay, das – und das Öffnen des ersten Türchens am Adventskalender natürlich! Der übrigens auch immer noch so aussehen muss wie zu meiner Kindergartenzeit, mit diesen kleinen Vollmilchschokoladen-Figürchen drin. Man komme mir bitte nicht mit diesen Edel-Kalendern für teures Geld! Mit denen funktioniert mein persönliches Ritual nämlich nicht korrekt. Sorry.
Mit Ritualen ist das so eine Sache: Sie sind feste, nach vorgegebenen Regeln ablaufende, sich wiederholende Abläufe von Handlungen – wörtlich gemeint, denn ein Ritual setzt eine körperliche (nicht nur gedankliche) Aktivität voraus. Die Bestandteile eines Rituals lassen sich nicht einfach beliebig ändern (siehe mein Adventskalender!). Rituale haben außerdem einen mindestens formellen, oft festlichen Charakter und einen hohen Symbolgehalt. Das heißt, sie sind mit einer bestimmten, manchmal religiös-spirituellen, immer aber emotionalen Bedeutung aufgeladen. Letzteres unterscheidet sie übrigens auch klar von der bloßen Routinehandlung, wie zum Beispiel dem abendlichen Zähneputzen (auch wenn die Begrifflichkeiten im Alltag oft verschwimmen).
Rituale bedienen eine ganze Reihe menschlicher Grundbedürfnisse, weswegen man sie auch in allen Kulturen findet. Alle Funktionen von Ritualen aufzuzählen, würde den Rahmen hier sprengen. Drei davon möchte ich Ihnen aber heute bewusst machen: Zum einen ist das die Kanalisierung von Emotionen (zum Beispiel durch Geburtstags- oder Trauerfeiern), zum Zweiten die Schaffung von sozialer Bindung (denken Sie etwa an Vereins- oder Gruppenrituale) und zu guter Letzt die Reduktion von Unsicherheit (wann welche Kerze am Adventskranz anzuzünden ist, ändert sich schließlich nicht). Aber: Was haben diese drei Funktionen gemeinsam?
Richtig: Allen kommt im Corona-Jahr eine ganz besondere Bedeutung zu. Schließlich fühlt sich 2020 für viele Menschen wie eine einzige emotionale Achterbahn an. Nicht wenige kämpfen gar mit extremen Ängsten oder müssen schwere persönliche Verluste verkraften. Soziale Kontakte mussten wir alle schon seit Monaten reduzieren und mühsam lernen, unsere Bindungen auf sehr ungewohnte, oft gefühlt unzureichende Weise zu pflegen. Viele unserer geliebten Rituale, die uns sonst Trost, Halt und Orientierung geben, konnten wir deshalb auch nicht oder nur eingeschränkt pflegen. Na ja, und „Unsicherheit“ war wohl das allgemein vorherrschende Grundgefühl dieses Jahres schlechthin.
Vielleicht auch deshalb fand ich das Auspacken meines Adventskranzes dieses Jahr so schön. Da war plötzlich wieder ein Ritual ganz unverändert möglich! Eines, das an Vergangenes erinnert und gleichzeitig in die Zukunft weist. Die Seelsorgerin Maria Selent hat in einem Interview einmal gesagt: „Rituale sind oft wie eine Halteschnur, an der man sich hochziehen kann, die einem Sicherheit gibt.“ Selten hatten wir alle solche Halteschnüre nötiger.
Wie ist das mit Ihnen? Welche Rituale könnten Ihnen ganz persönlich als wichtige Halteschnüre dienen, gerade jetzt in der (Vor-)Weihnachtszeit, aber durchaus auch rund ums Jahr? Welche davon haben Sie 2020 besonders vermisst? Gibt es eines, das Sie – zur Not leicht angepasst – gern wieder mal zelebrieren möchten?
Denken Sie mal darüber nach!
Die renommierte Diplom-Psychologin und Buchautorin schreibt, warum es so wichtig ist, Rituale zu pflegen – vor allem in diesem außergewöhnlichen Corona-Jahr, das uns alle ganz besonders fordert und verunsichert.