Da sind wir nun, einen Tag vor Heiligabend und vor diesem so anderen „Coronachten“. Die Pandemie zwingt uns ja derzeit in vieler Hinsicht, Gewohntes beiseite zu lassen oder anzupassen. Das ist oft lästig und anstrengend, wird an den kommenden Feiertagen aber besonders schwierig werden. Wie sehr sehnen wir uns doch alle nach Normalität!
Wir Menschen sind absolute Gewohnheitstiere – wir ändern meist nur dann etwas, wenn wir keine andere Wahl haben. Was wir gut kennen, das vermittelt uns ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Was wir nicht kennen, das macht uns erst einmal Angst. Selbst dann, wenn wir mit etwas Vertrautem nicht mehr oder nicht ganz glücklich sind, scheint es uns doch oft das kleinere Übel im Vergleich zu etwas Neuem. Immerhin ist das Alte das, mit dem wir uns auskennen. Das Unbekannte hingegen birgt Unsicherheit, Risiken, vielleicht Gefahren – und es ist deshalb immer anstrengend, sich ihm zu stellen. Unberechenbarkeit mögen wir nicht.
Im Bekannten und Bewährten zu verharren, das ist dagegen bequem. Da weiß man, was man hat. Und wo gäbe es wohl mehr Bekanntes und Bewährtes zu finden, als rund um Weihnachten, seine Traditionen und Rituale? Die Rollen und Aufgaben sind in normalen Jahren klar verteilt, das Drehbuch steht fest, in jeder Familie. Jeder und jede nimmt alljährlich – wahlweise klaglos oder auch leise jammernd – seinen oder ihren Platz ein, damit das Gesamtbild „Weihnachten“ erneut so stimmig wie möglich über die Bühne gehen kann.
Aber diesmal kommt Corona daher, wie ein übellauniger Grinch, der das Weihnachtsfest sabotieren will, und katapultiert uns brutal aus unserer Komfortzone heraus. Plötzlich liegt das übliche Drehbuch in Scherben, nichts ist mehr selbstverständlich. Keine Chance auf das einfach routinemäßige Abspulen des gewohnten Programms. Diesmal ist viel mehr Flexibilität bei allen Beteiligten nötig, mehr Überlegung und Kreativität in jeder Hinsicht.
Alles Mögliche muss neu gedacht und bewertet werden: Wer und was ist uns wirklich wichtig, damit es trotz allem ein schönes Weihnachten wird? Welche Prioritäten setzen wir? Welcher dafür nötige zusätzliche Aufwand, welche vielleicht nötigen oder sinnvollen Opfer – zum Beispiel freiwillige Quarantänetage als Vorbereitung auf Besuche bei RisikopatientInnen – werden frohen Herzens erbracht, von uns und von anderen? Und welche eher nicht? Fragen, die nicht immer leicht zu beantworten sind und an die wir uns in anderen Jahren vielleicht eher nicht herangetraut hätten.
Kein anderes Fest im Jahreslauf unseres Kulturkreises ist schließlich derart aufgeladen mit Emotionen, keines so überfrachtet mit Wünschen, Idealvorstellungen und Erwartungen wie Weihnachten. Und gleichzeitig auch mit so vielen Ängsten, Spannungen und Enttäuschungen, gerade innerhalb unserer engsten Beziehungen. An so ein Pulverfass geht man nicht freiwillig, um tief greifende Veränderungen vorzunehmen. Nicht, wenn man irgendwann mal ein für alle Beteiligten zumindest halbwegs praktikables Modell etabliert hat. Da belässt man es lieber beim Üblichen, selbst wenn eigentlich vieles daran längst nicht – mehr – stimmt.
Dieses Jahr haben wir aber keine Wahl, dieses Mal müssen wir vieles anders machen. Das geht nicht immer schmerzlos ab. Dennoch steckt in dieser erzwungenen Veränderung auch eine sehr große Chance: 2020 können wir nämlich endlich mal herausfinden, welche Essenz von Weihnachten uns und unseren Liebsten ehrlich wichtig ist. Welche es wert ist, vor dem Grinch gerettet zu werden. Indem wir sie, wo nötig, in ganz neue Formen gießen. Wenn wir uns jetzt mal alle gemeinsam mutig aus unserer Komfortzone heraus und auf Neuland wagen!
Statt des ewig gleichen üppigen Weihnachtsessens – das die Kinder vor Aufregung eh nie essen, von dem Opa Sodbrennen kriegt und das für jede Menge Küchenstress sorgt – gibt’s heuer vielleicht ja mal Wintergrillen und selbst geröstete Mandeln mit Punsch auf der Terrasse? Spiele- und Gesprächsrunden lassen sich auch virtuell organisieren, nicht selten sorgt das sogar für eine Portion Extra-Spaß. Wie wäre es mit einem Zoom-Quiz, einer Familien-Weihnachtswanderung oder einer Weihnachts-Schnitzeljagd? Dieses Jahr darf alles ausprobiert werden und alles auch ganz entspannt schiefgehen. Im Zweifel war halt immer Corona schuld! Es gibt keine Blaupause. Das kann auch ungemein befreiend und beflügelnd wirken – wenn Sie es zulassen.
Was den spirituellen Aspekt des Fests angeht: Ob Freiluft-Krippenspiele, virtuelle Adventskalender oder die Aktion „#achtzehn8 – Leipzig singt Stille Nacht“ (bei der um 18.08 Uhr morgen alle Leipziger überall aufgerufen sind, gleichzeitig zu singen): Es gibt trotz Corona allerorten viele Möglichkeiten, sich in diesen Tagen als aktiver Teil einer Gläubigen-Gemeinschaft zu fühlen. Vielleicht wird auch das 2020 sogar inspirierender als in früheren Jahren, wenn man nur stumpf und ohne echte innere Beteiligung den immer gleichen Routinen folgte? Diejenigen Leserinnen und Leser, die es nicht so mit dem Christentum haben, finden dieses Jahr vielleicht ebenfalls auf andere, für sie persönlich gute Weise, etwas mehr Ruhe für innere Einkehr als sonst. Immerhin verbringt man ja schon mal weniger Zeit im Auto, wenn der eine oder andere Besuch wegfällt.
In Japan gibt es Kintsugi, die uralte Technik des Goldflickens: Geht ein kostbares Keramik- oder Porzellangefäß kaputt, werden dessen Bruchstücke zusammengesetzt und die Risse sehr sorgfältig mit einem speziellen Goldlack überzogen, der diese noch hervorhebt. Trotz – oder vielmehr gerade wegen! – dieses Makels ist das reparierte Stück anschließend wertvoller als zuvor: geadelt durch die hohe Kunstfertigkeit und große Anstrengung, die die Technik erfordert.
Wir alle brauchen für dieses Jahr genau so etwas: den Mut und die Kunst, aus alten Bestandteilen ein ganz neues Weihnachtsfest entstehen zu lassen. Eines, das in seiner Gestalt zwar nah an der ursprünglichen bleibt, aber dennoch in sich etwas völlig anderes darstellt. Dessen Risse und Sprünge wir nicht zu verdecken versuchen, sondern sie stattdessen durch eine besondere Art von liebevollem, sehr bewussten Umgang mit seinen für uns wichtigsten Elementen veredeln. Und das gerade dadurch einen ganz einzigartigen Charme und eine tiefe Schönheit entfalten kann.
Ihnen allen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich trotz aller Widrigkeiten ein ganz besonderes Weihnachten, und für das Neue Jahr viel Gesundheit, Hoffnung und Zuversicht!