DIE HAUSARZT-KOLUMNE – NEUES AUS DER PRAXIS

Achten Sie aufeinander!

von Redaktion

Das vergangene Jahr hat uns allen viel abverlangt. Oft zu viel. In vielen Bereichen des Lebens haben sich Dinge grundlegend verändert: Händeschütteln, Umarmen, Küsschen auf die Wange – all das gehörte dazu wie die Luft zum Atmen. Heute unvorstellbar. Doch der Mensch ist leidens- und anpassungsfähig. Jetzt stoßen wir zur Begrüßung die Fäuste oder Ellenbogen aneinander und versuchen mit den Augen zu lachen, da den Mund eine Maske verdeckt.

Es haben sich durch die Pandemie aber auch Dinge auf unerträgliche Weise verschlechtert, die es vorher schon gab. Eines davon ist die Einsamkeit. Wir Hausärzte kommen damit täglich in Kontakt. Vor allem unsere älteren Patienten haben damit zu kämpfen. Oft sind der Partner und die meisten Freunde schon verstorben. Die Kinder haben ihre eigene Familien und wenig Zeit. Von morgens bis abends sind die Senioren allein in ihren vier Wänden. Das heißt: Allein essen, spazieren gehen, fernsehen, Musik hören. Alleinsein mit Gedanken und Sorgen.

Noch vor einem Jahr gab es bei den meisten Unterbrechungen dieses Alltags: der Besuch der Kinder oder der Enkel, Kaffeetrinken mit der Nachbarin, Vereine und Veranstaltungen. Sie vertrieben die Einsamkeit zumindest kurz. Jetzt ist auch das weg.

Letztens besuchte ich einen Patienten im Altenheim, der dort erst eingezogen war. Geistig topfit, kann er nur noch schlecht sehen und hören, was Lesen und Fernsehen fast unmöglich macht. Er erzählte mir, dass es schwierig wäre, neue Kontakte zu knüpfen. Seine Kinder kämen zwar manchmal zu Besuch, durch Corona aber immer seltener.

Die meiste Zeit sitzt er in seinem Zimmer und macht: im Grunde nichts. Als ich nach einem längeren Gespräch am Gehen war, holte er mich noch mal kurz zurück und fragte: „Herr Doktor, hätten Sie nicht eine Spritze für mich?“ Er meinte keine Schmerz- oder Aufbauspritze, sondern etwas, das ihn für immer von seiner Einsamkeit und der endlosen Eintönigkeit befreit.

Auch wenn es mich sehr traurig macht und es meiner ärztlichen Auffassung widerspricht: Ich konnte und kann ihn verstehen. Es war auch nicht das erste Mal, dass solche Fragen kommen. Die Pandemie mit ihren Besuchs- und Kontaktverboten hat die Lage aber verschlimmert.

Betroffen sind nicht nur Ältere. Auch Jüngere leiden zunehmend unter Vereinsamung. Im Lockdown unterscheidet sich das Leben als Single in einer 40 qm-Wohnung in Schwabing kaum von dem des älteren Herrn im Heim.

Dabei muss man „Allein sein“ von Einsamkeit unterscheiden: Einsamkeit ist immer belastend. Wir sehen in unseren Praxen zunehmend Patienten jeden Alters mit depressiven Verstimmungen, Depressionen, Angst und Panikreaktionen – ausgelöst oder verstärkt durch die Krise.

Was können wir also tun? Egal ob per Telefon, Whatsapp oder Videochat – bleiben Sie in Kontakt! Erinnern Sie sich daran, dass es Menschen gibt, die ihnen nahestehen. Sprechen Sie über Sorgen und Ängste und achten Sie aufeinander. Machen Sie jemandem mal wieder eine kleine Freude. Denn: Gemeinsam ist es immer leichter! Erinnern Sie sich daran, was Sie in Ihrem Leben schon alles geschafft haben. Sie werden auch das schaffen. Wir werden das schaffen – da bin ich sicher!

VON DR. SEBASTIAN BRECHENMACHER

Der hausärztlich tätige Internist mit Praxis in Krailling (Kreis Starnberg) schreibt über Einsamkeit in der Krise.

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