12 Minuten klinisch tot, um zu leben

von Redaktion

30-Zentimeter-Tumor von der Niere bis ins Herz: Die Rettung einer Krebspatientin

VON ANDREAS BEEZ

München – Im Kampf gegen den Krebs gilt die Psyche als wichtige Waffe. Wer positiv denkt, kann dem Körper beim Heilen helfen – selbst dann, wenn die Situation fast schon hoffnungslos erscheint. So wie bei Danielle: Die Münchnerin litt an einem monströsen Tumor. Er war von der Nierengegend durch den Bauchraum bereits bis in die Brust und ins Herz hineingewachsen. „Als mir die Ärzte die Diagnose eröffneten, war ich geschockt, aber mir blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder hängst du noch am Leben und kämpfst. Oder du gibst auf und gehst gleich. Ich habe mich fürs Leben entschieden“, sagt die 74-Jährige.

Sie willigte in eine spektakuläre Operation ein – hochrisikant, aber ihre einzige Chance, dem sicheren Krebstod zu entgehen. Um überleben zu können, war Danielle exakt zwölf Minuten lang klinisch tot.

Drei Teams operierten sieben Stunden lang

„Wir mussten einen kompletten Kreislaufstillstand herbeiführen, um den Tumor aus dem Herzen zu entfernen“, erklärt Professor Walter Eichinger, Chefarzt der Herzchirurgie in der München Klinik Bogenhausen. Gemeinsam mit seinen Kollegen von der Urologie und der Gefäßchirurgie hatte er eine spektakuläre OP-Strategie ausgetüftelt. Drei Spezialisten-Teams operierten etwa sieben Stunden lang Hand in Hand. Das ehrgeizige Ziel: den Tumor auf einer Gesamtlänge von etwa 30 Zentimetern aus Danielles Körper zu schneiden, ohne lebenswichtige Organe und andere Strukturen zu zerstören.

Die Seniorin hat den Ritt auf der Rasierklinge überlebt. Ihr Fall ist ein Paradebeispiel dafür, was fachübergreifende Zusammenarbeit in Zentren der modernen Spitzenmedizin heute leisten kann. „Wir möchten anderen Krebspatienten Mut machen“, sagen die Münchnerin und ihre Ärzte. In unserer Zeitung erzählen sie die ganze Geschichte der dramatischen Rettung.

Es war ein Alltagsunfall, der Danielle vermutlich das Leben gerettet hat. „Ich bin beim Einkaufen über eine Tasche gestolpert und auf den Bauch gefallen. Zunächst habe ich nichts gemerkt, aber nachts plötzlich Schmerzen bekommen.“ Tags darauf ging sie zum Hausarzt. Er nahm eine Ultraschalluntersuchung vor, das Ergebnis war auffällig. Nach weiteren radiologischen Untersuchungen kam Danielle sofort in die München Klinik Bogenhausen.

Als die Ärzte die Diagnose-Bilder sahen, runzelten die Mediziner zunächst die Stirn. „So einen Tumor haben selbst erfahrene Experten nur extrem selten gesehen“, berichtet Privatdozent Dr. Atiqullah Aziz, Chefarzt der Urologie.

Weltweit nur 900 ähnliche Fälle bekannt

Letztlich wurde der Feind in Danielles Körper als extrapleuraler solitärer fibröser Tumor (SFT) enttarnt. Bis heute sind in der medizinischen Fachliteratur laut Experten der Uni Münster weltweit lediglich 900 Fälle beschrieben. Bei Danielle saß der Krebsherd im hinteren Bauchfall, in der Nähe der Nieren. Von dort aus wuchs ein etwa daumendicker sogenannter Tumorzapfen entlang der stärksten Vene des Körpers (Fachbegriff untere Hohlvene) bis in den rechten Vorhof des Herzens hinein. „Diese Vene wirkte für den Tumor wie eine Art Leitstruktur“, berichtet Herzchirurg Eichinger. Vereinfacht erklärt: Der Krebs bahnte sich wie eine Liane den Weg durch den Körper – etwa 30 Zentimeter lang, von der Niere bis zum Herzen.

Der Mega-Tumor wurde zufällig entdeckt

Das Verrückte daran: Die Patientin spürte es nicht. Noch im November war sie wegen eines Herzinfarkts im Uniklinikum rechts der Isar behandelt worden, doch ein Tumor wurde damals nicht diagnostiziert. „Auch in den letzten Monaten hatte ich keine Beschwerden, allenfalls ein bisschen Gewicht abgenommen, mir aber nichts dabei gedacht.“

Die überraschende Krebsdiagnose traf Danielle doppelt hart, denn vor 22 Jahren war sie bereits an einem Mammakarzinom erkrankt. Dank Chemotherapie und Bestrahlung konnte sie den Brustkrebs besiegen und ging anschließend regelmäßig zur Kontrolluntersuchung. Doch auch bei diesen Arztterminen wurde der neue Tumor nicht entdeckt. Und dann dieser Tiefschlag: „Ich war mit den Nerven am Ende. Mehr als einmal habe ich mich gefragt: Warum schon wieder ich? Irgendwann muss doch mal Schluss sein!“

Am Ende war es Danielles Familie, die sie am Leben hielt, allen voran ihre vier Enkelkinder. „Ich wollte sie weiter aufwachsen sehen.“ Für diese Glücksmomente, die sie jetzt wieder genießen kann, musste Danielle lange kämpfen: erst die OP, hinterher zehn Tage Intensivstation und zwei Monate Krankenhaus. Dazu auch noch die Einsamkeit und Sehnsucht nach der Familie, weil sie wegen Corona zunächst keinen Besuch empfangen durfte.

Doch der Eingriff war aus medizinischer Sicht alternativlos. „Der Tumor hatte schon die Gefäßinnenwand der unteren Hohlvene infiltiert“, erläutert Herzchirurg Eichinger. „Bald wäre es vermutlich zu einem Blutstau im unteren Körperbereich gekommen, weil der Tumor den Rückstrom des Blutes zum Herzen immer mehr einschränkte.“ Eine mögliche Folge: eine potenziell tödliche Lungenembolie.

Bei der OP griffen acht Ärzte zum Skalpell, unterstützt von Anästhesisten, einem Kardiotechniker, mehreren OP-Schwestern und weiteren Helfern. Zunächst kümmerten sich drei Urologen um den Tumorherd im hinteren Bauchfell. „Wir mussten leider auch eine Niere und die Milz entfernen“, berichtet Chefurologe Aziz. Anschließend befreiten zwei Teams die Hohlvene von dem Tumorzapfen.

Fachübergreifende Präzisionsarbeit

Als Laie kann man sich die OP-Strategie vorstellen wie ein Tunnelbauvorhaben. Die Gefäßchirurgen um Chefarzt Professor Andreas Maier-Hasselmann und Oberarzt Konstantin Lechtmann arbeiteten sich von unten vom Bauchraum aus vor, die Herzchirurgen von oben vom Herzen aus, bis sich beide Teams in der Mitte trafen. Die Strecke bis dorthin ist Präzisionsarbeit. „Man kann den Tumor nicht einfach rausschneiden. Man muss ihn sehr vorsichtig von der Innenwand der Vene ablösen“, erklärt Gefäßchirurg Lechtmann.

Bei den Arbeiten im rechten Vorhof des Herzens muss die Herzlungenmaschine ausgeschaltet werden. Damit das Gehirn keinen Schaden nimmt, wird es perfundiert, wie die Experten sagen. Sie pumpen mithilfe kleiner Schläuche Blut hinein. Zuvor war Danielles Körpertemperatur auf unter 20 Grad heruntergekühlt worden. „Das macht man, um den Energieverbrauch des Gewebes zu reduzieren“, erklärt Professor Eichinger. In seiner 25-jährigen Laufbahn als Herzchirurg hat er „vielleicht fünf vergleichbar komplexe Tumoren operiert“. Er weiß um das hohe Komplikations- und Sterberisiko bei solchen Eingriffen. „Ich bin erleichtert, dass alles gut gegangen ist.“ Und Danielle natürlich noch viel mehr. Die OP-Wunde – immerhin ein Schnitt vom Bauch bis zum Brustkorb – ist gut verheilt. Die Seniorin muss zwar nun noch eine Bestrahlungstherapie hinter sich bringen, um sicherzustellen, dass etwaige noch im Körper verbliebene Tumorzellen unschädlich gemacht werden. Auch steht noch eine Reha an, um die geschwächte Muskulatur wieder aufzutrainieren.

Aber diese Strapazen erträgt sie mit einem großen Glücksgefühl: „Ich bin froh, dass ich wieder zu Hause bei meiner Familie bin.“

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