München – Iva G. liebt es, sich die Fingernägel schick zu lackieren, die Zwölfjährige trifft sich auch gerne mit Freundinnen, um mit denen die neusten Trends zu besprechen. Was sie allerdings nicht mehr so liebt und deshalb auch selten tut, ist, sich für das Treffen mit den Freunden aus ihrem Kinderzimmer zu bewegen. Warum auch, sie kann von dort aus mit allen bequem chatten – und die Kamera ihres Handys so ausrichten, dass sie vorteilhaft zur Geltung kommt. Sich also selbst aus einer Perspektive filmen, bei der ihr Doppelkinn nicht zu sehen ist, das sich im vergangenen Jahr gebildet hat.
Leider nicht nur das: Das Mädchen hat im vergangenen Jahr gute elf Kilogramm zugenommen. Bei einer Größe von 170 Zentimetern wiegt sie nun 75 Kilogramm. Bei einer erwachsenen Frau wäre dieses Gewicht noch in Ordnung – mit einem Bodymass-Index (BMI) von 26. Nicht aber bei einer Zwölfjährigen. Hier ist Normalgewicht gegeben bei einem BMI von 18 bis 19. Für einen solchen müsste Iva zwischen 51 und 56 Kilogramm wiegen.
„Sie muss dringend abnehmen, aber nachhaltig, am besten 16 Kilogramm“, sagt ihr Arzt, der Kinderkardiologe Professor Manfred Vogt aus München. „Wichtig ist ein dauerhafter Erfolg, eine schnelle Diät nutzt nichts, denn hier läuft etwas grundlegend falsch und das Mädchen muss seinen Lebensstil und seine Ernährung dauerhaft ändern“, sagt Vogt.
In seiner Praxis sieht er seit ein paar Monaten laufend Kinder, die in der Corona-Zeit extrem an Gewicht zugenommen haben. „Das Problem dabei ist, dass dieses Übergewicht massive Folgen für die Gesundheit dieser Kinder hat, wenn sie es nicht schaffen, es abzubauen, denn dann satteln sie meistens laufend etwas drauf“, sagt Vogt. Zu den Folgekrankheiten von Adipositas gehören beispielsweise Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 oder Gicht. Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Bluthochdruck und viele mehr.
Professor Vogt empfahl seiner Patientin Iva, dass sie sich bei dem Programm Moby Kids anmeldet. Dieses Schulungsprogramm wendet sich an übergewichtige Kinder und deren Eltern – AOK-Patienten bekommen mit einer ausgefüllten ärztlichen Notwendigkeitsbescheinigung den Kurs voll bezahlt.
Bei dem Programm wird über ein beziehungsweise zwei Jahren an einer Verhaltensänderung gearbeitet – die Kinder bekommen neben Bewegungsprogrammen auch Tipps, wie sie gesund uns schmackhaft essen, und dabei langfristig abnehmen können. Die Kinder arbeiten in Gruppen zusammen und können sich so gegenseitig ermutigen.
„Das ist genau das, was den Kindern und Jugendlichen in der Pandemie fehlte, sportliche Aktivitäten gemeinsam mit anderen“, sagt Vogt.
Vor allem im zweiten Lockdown haben sich Kinder und Jugendliche deutlich weniger bewegt als im Frühjahr 2020.
Die Kinder vermissen Sport in der Gruppe
Zu diesem Ergebnis kommt eine Langzeitstudie des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Alexander Woll, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft am KIT, ist alarmiert darüber, dass sich die Kinder im ersten Lockdown noch täglich 166 Minuten bewegten – mit dem Rad fuhren, zu Fuß gingen, joggten oder Indoor-Fitness betrieben, aber im zweiten Lockdown nur noch durchschnittlich 75 Minuten. Gleichzeitig verlängerte sich der Fernsehkonsum der 1700 befragten Kinder und Jugendlichen: Sie saßen 222 Minuten am Tag vor dem Bildschirm, 28 Minuten länger als im ersten Lockdown. Knapp 30 Prozent der befragten jungen Menschen zwischen vier und 17 Jahren seien nach eigenen Worten dicker geworden.
90 Prozent der Kinder haben während des Lockdowns Sport vermisst – 83 Prozent vor allem, diesen in der Gruppe zu machen. Das ergab eine repräsentative Umfrage unter Kindern im Alter vonsechs bis 14 Jahren und Erwachsenen im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerkes und der Deutschen Sportjugend. Wenn nach der Corona-Pandemie jedes Kind ein Jahr lang kostenlos in einem Sportverein mitmachen könnte, würden 86 Prozent der Kinder in Deutschland dieses Angebot auf jeden Fall oder wahrscheinlich wahrnehmen. Vor diesem Hintergrund befürworten 86 Prozent der Erwachsenen die Forderung, dass die Bundesregierung nach der Corona-Pandemie deutlich mehr in den Kinder- und Jugendsport investieren und dafür unter anderem jedem Kind ein Jahr lang den kostenfreien Zugang zu einem Sportverein ermöglichen sollte.
Vor Adipositas bei Kindern als eine stille Pandemie warnt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Sprecherin der AG Adipositas im Kindes- und Jugendalter, erklärt: „Wir dokumentieren in unseren Spezialsprechstunden Gewichtszunahmen von bis zu 30 Kilo in sechs Monaten – Einzelfälle, aber ,Rekorde‘ dieser Art mehren sich. Es gibt bei Kindern einen derart klaren Anstieg an Adipositas während der coronabedingten Lockdowns, dass wir hier von einer zweiten, einer ,stillen Pandemies‘ sprechen. Zudem beobachten wir bei Jugendlichen eine deutliche Zunahme der Neumanifestationen von Typ-2-Diabetes.“
„Hier sind die ganzen Familien gefragt“, sagt Professor Vogt. „Ich habe schon tolle Erfolge gesehen, wenn sich Familien für das Moby Kids Programm entschieden haben – bei manchen Kindern und Jugendlichen fällt das auf fruchtbaren Boden und man muss sagen, dass meistens die ganze Familie betroffen ist und ihr Ernährungsverhalten auf den Prüfstand stellen sollte.“ Es komme immer wieder vor, dass dann Großeltern sagen, der Enkel sei krank, er esse nichts mehr, und man muss dann auch denen erklären, wie wichtig es ist, nicht regelmäßig über die Stränge zu schlagen.
In der Familie von Iva kommt viel Fleisch auf den Tisch – „das war schon immer so, aber früher war das kein Problem“, sagt Mutter Dana G. In ihren Augen ist vor allem die Langeweile schuld, die ihre Tochter im Lockdown geplagt hat. „Da hat sie sich Sport und Bewegung abgewöhnt, und stattdessen lag sie den ganzen Tag auf dem Sofa mit dem Handy in der Hand.“
Lebenslust und Antrieb, das vermisse sie bei ihrer Tochter – und sorgt sich, denn die Zwölfjährige hat nun einen stark erhöhten Blutdruck. Im Urlaub in Kroatien will die Familie deshalb viel mit dem Rad fahren, sagt Dana G. Im September startet das Programm Moby Kids (www.mobykids.de). Die ganze Familie will mitmachen, alle wollen abnehmen: „Wir brauchen jemanden, der uns hilft, ich kann das nicht schaffen, das Verhalten meiner Tochter zu ändern“, sagt Dana G.