Der Irrtum mit den Blutdruck-Werten

von Redaktion

Hypertonie: Bereits leicht erhöhte Messwerte bergen erhebliche Gefahren

Von ANDREAS BEEZ

In Deutschland ist Bluthochdruck die mit Abstand häufigste Volkskrankheit. Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) wird sie bei fast jedem dritten Erwachsenen diagnostiziert, insgesamt sind über 20 Millionen Bundesbürger betroffen. Dazu kommen viele Menschen, die nichts von ihrer Hypertonie wissen. Das kann dramatische Folgen haben – oft sogar den Tod. Um den „stillen Killer“ zu enttarnen, rückt die renommierte Deutsche Herzstiftung den Bluthochdruck in den Fokus ihrer Herzwochen (siehe Kasten). Zum Auftakt erklärt heute der erfahrene Münchner Präventionsmediziner Professor Martin Halle (Foto), warum schon leicht erhöhte Blutdruckmesswerte gefährlicher sind, als viele Menschen ahnen.

Von wegen „Das ist nicht so schlimm“

„Ein Blutdruck von 150/90 mmHg wird schon nicht so schlimm sein“ – solche Kommentare bekommen Ärzte oft von ihren Patienten zu hören. „Doch das ist ein Irrtum“, warnt Professor Martin Halle, Ärztlicher Direktor Präventive Sportmedizin und Sportkardiologie der TU München. „Denn auch Werte, die scheinbar nur leicht erhöht sind, können im Körper fatale Kettenreaktionen auslösen. Am Ende stehen Notfälle, die oft tödlich enden. Dazu gehören Schlaganfälle, Herzinfarkte, Herzschwäche und schwere Nierenschädigungen.“ Als optimal gilt ein Blutdruck von 120/80 mmHg. Erst ab 140/90 sprechen Ärzte von einer milden Hypertonie (siehe Tabelle re. unten).

Wie stark das Erkrankungsrisiko aber bereits bei leicht erhöhten Blutdruckwerten ansteigt, haben Wissenschaftler aus China dokumentiert. Sie analysierten 19 Studien mit über 760 000 Teilnehmern. Danach hat sich die Herzinfarktgefahr bereits bei Messwerten zwischen 130/85 und 139/89 nahezu verdoppelt. Bei Patienten mit einem Blutdruck zwischen 120/80 und 140/90 kletterte die Schlaganfallgefahr um 66 Prozent. Trotzdem wird das Risiko durch erhöhte Blutdruckwerte oft unterschätzt. Das hat gleich mehrere Gründe: Zum einen verspüren die Betroffenen zunächst keine Beschwerden oder führen Symptome nicht auf Bluthochdruck zurück. „Die Schäden am Gefäßsystem entstehen schleichend, sie entwickeln sich über zehn bis 15 Jahre. Und selbst dann werden Herzinfarkte oder Schlaganfälle oft allenfalls nebensächlich mit Hypertonie in Verbindung gebracht“, weiß Halle. Dazu kommt: Viele Patienten wissen gar nicht so genau, was Blutdruck eigentlich ist, und können mit der Maßeinheit mmHg wenig anfangen.

Was Blutdruck überhaupt ist

Der Blutdruck ist die Kraft, die das Blut auf die Wände von Arterien und Venen ausübt. Er wird von zwei Faktoren beeinflusst: „Zum einen steckt im Gefäßsystem ein bestimmtes Volumen an Blut. Je größer es ist, desto stärker wird der Druck auf die Gefäßwände. Zum anderen werden die Gefäßwände mit dem Alter steifer. Stellen Sie sich einen mit Wasser gefüllten Luftballon vor. Wenn der Ballon besonders prall gefüllt ist, noch dazu spröde wird und an Elastizität verliert, dann steigt der Druck auf die Hülle“, erklärt Halle. Wird der Druck auf die Gefäße zu groß, reißen die Innenwände ein. Entzündungsprozesse und Ablagerungen (Plaques) sind die Folge. Diese Prozesse – in der Fachsprache Atherosklerose genannt – spürt der Patient zunächst nicht. Jedoch besteht die Gefahr, dass sich die Gefäße verschließen und einen Herzinfarkt oder Schlaganfall auslösen. Blutvolumen und Gefäßwandbeschaffenheit sind für den sogenannten Basiswert verantwortlich. Er wird auf Messgeräten als der untere, zweite Wert dargestellt. Darauf baut der obere Wert auf. Dieser entsteht, weil das Herz Blut durchs Gefäßsystem pumpt. Dadurch kommt weiterer Druck hinzu. Unterer und oberer Wert zusammen- genommen zeigen dem Arzt, ob ein Blutdruck normal oder eben doch schon behandlungsbedürftig ist.

Das bedeutet der Messwert mmHG

Die Maßeinheit heißt mmHg. Sie steht für Millimeter Quecksilbersäule. Der Hintergrund: Früher verwendeten Mediziner Quecksilber in einem Glasröhrchen, um den Blutdruck zu messen – vergleichbar mit alten Fieberthermometern. Quecksilber hat eine 13-fach höhere Dichte als Wasser. „Stellen Sie sich Ihre Schlagader vor wie einen Gartenschlauch. Liegt Ihr Blutdruck bei 150 statt bei den normalen 120 mmHg, hat diese Erhöhung die Wirkung von weiteren 40 Zentimetern Wasser, die von innen auf den Gartenschlauch – sprich auf Ihre Arterie – drücken. Und dies bei jedem einzelnen Herzschlag“, erläutert Halle. „Das macht deutlich, was Bluthochdruck auf Dauer mit Ihren Gefäßen in Gehirn, Herz und Nieren anrichten kann.“ Schlaganfälle und Herzinfarkte als Folge von Bluthochdruck sind den meisten Menschen geläufig. Dass Hypertonie auch die Nieren schwer schädigen kann, bis zum Nierenversagen mit Dialyse, wissen viele aber nicht.

Wie sich die Schäden entwickeln

Die Schäden schreiten still, aber stetig voran. Zum Beispiel am Herzen. Kardiologe Halle: „Es muss gegen einen höheren Widerstand anpumpen. Weil das Herz ein Muskel ist, wird es immer dicker. Aber nach etwa fünf bis zehn Jahren kann es nicht mehr, zollt dem Kraftakt Tribut. Dann wird das Herz größer, steifer, seine Struktur leiert aus – auch jene der Vorhöfe. Die verdickten Muskelwände bewirken, dass das Herz nicht mehr optimal saugen und pumpen kann. Die Blutzirkulation wird vermindert. Man bekommt Herzschwäche, ist weniger belastbar. Oft nimmt das elektrische Zentrum des Herzens in den Vorhöfen Schaden. Es entsteht Vorhofflimmern. Das Blut kreist im Vorhof wie eine Suppe im Kochtopf. Dadurch bilden sich Gerinnsel, die ins Gehirn geschleudert dort einen Schlaganfall verursachen können.“

Was den Blutdruck in die Höhe treibt

Was aber treibt den Blutdruck nach oben? Erstens das Alter. Man weiß, dass die Gefäße mit den Jahren steifer werden. Zweitens zu viel Salz. „Es steckt in Wurst, Käse, Brot – in vielem, was wir Deutsche gerne essen“, weiß Halle. „Salz gelangt in die Blutbahn und bindet Wasser. Dadurch steigt das Blutvolumen und als Folge der Blutdruck.“ Neben dem Salz gelten auch Übergewicht, vor allem hohe Bauchfettwerte, und Alkohol als Brandbeschleuniger der Hypertonie. „Wer regelmäßig ein, zwei halbe Bier trinkt, treibt seinen Blutdruck schon nach oben“, warnt Halle. Auch Bewegungsmangel, Stress und in manchen Fällen auch eine genetische Veranlagung befeuern Bluthochdruck. „Im Umkehrschluss gilt: Ein gesunder Lebensstil hilft entscheidend dabei, die Gefäße zu schützen. Dazu gehören eine bewusste, eher mediterrane Ernährung mit viel ungesättigten Fettsäuren, Obst und Gemüse sowie regelmäßige Bewegung. Beim Sporteln gilt das Motto: lieber kürzer, aber dafür so oft wie möglich. Schon zehn Minuten radeln oder walken pro Tag können viel bewirken.“

Kein Sport ohne den Check beim Arzt

Vorsicht: Wer mit Übergewicht kämpft und untrainiert ist, sollte sich vorher durchchecken lassen. Denn sonst besteht die Gefahr, dass der Blutdruck bei der ungewohnten Anstrengung durch die Decke geht. „Um beim Gartenschlauch-Bild zu bleiben: Bei Blutdruckspitzen von 220 mmHg entspricht die Mehrbelastung dem Druck von fast vier Metern Wassersäule. Dann ist der Druck etwa auf die Gefäße im Hirn dramatisch.“ Oder auch in der Schlagader: Wenn der Patient ein Aneurysma – also eine krankhafte sackartige Erweiterung der Schlagader – hat, kann diese bei solchen Belastungen sogar platzen. Dann droht der Patient innerlich zu verbluten. Deshalb sprechen Experten beim gefürchteten Bauchaortenaneurysma in der Bauchschlagader auch von einer „Bombe im Bauch“.

Am Ende noch eine gute Nachricht

„Durch Bewegung, gesunde Ernährung, Gewichtsnormalisierung (ein Kilo weniger reduziert den Blutdruck um ein mmHg) und weitgehenden Alkoholverzicht lassen sich die Werte auf natürliche Weise um bis zu 20 mmHg senken. Insofern ist ein gesunder Lebensstil genauso effektiv wie ein Blutdruckmedikament.“

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