München – Professor Bert Sakmann (79) zählt zu den klügsten Köpfen der Gesundheitsforschung, ihm wurden unter anderem neun Ehrendoktortitel und der Nobelpreis für Medizin verliehen. Doch selbst mit seinem enormen Fachwissen war dem Wissenschaftler nicht bewusst, wie gefährlich eine einzige entzündete Zahnwurzel werden kann. Um diese herum hatten sich Bakterien eingenistet, die durch den Blutkreislauf zum Herzen gelangten. Dort befielen sie die Herzinnenhaut und die Mitralklappe, eine der vier Herzklappen. Er bekam eine Blutvergiftung, die schnell außer Kontrolle geriet. Gerade noch rechtzeitig landete Sakmann in der München Klinik Bogenhausen, wo ihm sein Kollege Prof. Walter Eichinger in einer dramatischen Not-Operation am offenen Herzen das Leben rettete. „Ich bin dem Tod von der Schippe gesprungen“, sagt Sakmann dankbar.
Sein Fall zeigt, welche verheerenden Kettenreaktionen durch Entzündungsprozesse im Mund in Gang gesetzt werden können. Der Zusammenhang mit einer Sepsis, mit Herzklappenerkrankungen, einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall kommt vergleichsweise selten ans Licht, weil der Ursprung dieser lebensbedrohlichen Notfälle oft nicht zurückverfolgt wird. Aber Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. „Wissenschaftliche Daten belegen eindeutig, dass chronische Entzündungen ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle bewirken“, berichtet Professor Alexander Leber, Kardiologe und Direktor des Isar-Herz-Zentrums im Münchner Isarklinikum.
Nährboden für etwa 700 Keime im Mund
Den Nährboden für solche Krisenherde im Körper bildet Parodontitis, eine Erkrankung des Zahnhalteapparats. „Diese Volkskrankheit wird oft unterschätzt und mitunter als lästiges Zahnfleischbluten verharmlost“, weiß der erfahrene Zahnmediziner Prof. Hannes Wachtel von der Implaneo Dental Clinic in München und erklärt den medizinischen Hintergrund: „Im Mund tummeln sich etwa 700 verschiedene Bakterienarten. Die allermeisten sind harmlos, aber etwa zehn dieser Erregertypen gelten als höchst aggressiv. Sie gehören zur Gruppe der sogenannten gramnegativen anaeroben Bakterien. In ihren Wänden sitzen sehr viele Giftstoffe.“
Bei Parodontitis nisten sich diese Keime in sogenannten Taschen rund um die Zahnhälse ein. Sie zerstören zunächst die Zahnfleischhaut, dringen dann ins Zahnfleisch ein und verursachen dort chronische Entzündungen. Auf Dauer greifen diese den Kieferknochen an. Knochensubstanz geht verloren – so lange, bis die Zähne locker werden und letztlich ausfallen. Damit verliert der Patient auch einen Schutzschild gegen Bakterien. „Vereinfacht erklärt sind Zahnfleisch und Zähne im gesunden Zustand praktisch miteinander verklebt“, erläutert Wachtel. Wenn diese feste Gewebestruktur nun aufgelöst wird, entfällt eine Barriere. Die Bakterien gelangen ungehindert in die Blutbahn.“
Dieses Szenario ist gefürchtet, bestätigt Herzchirurg Eichinger. „Gerade bei Herzklappen-Infekten sehen wir immer wieder einen Zusammenhang mit Bakterien im Mund. Deshalb ist eine gute und regelmäßige Zahnhygiene entscheidend – insbesondere für Patienten mit vorgeschädigten Herzklappen. Sie sollten ihren Zahnarzt zudem vor jeder Zahnbehandlung über ihre Vorerkrankung informieren. Denn Bakterien können auch durch Zahnbehandlungen in den Blutkreislauf und damit zu den Herzklappen gelangen.“
In solchen Fällen überlassen erfahrene Zahnmediziner nichts dem Zufall. „Wir setzen dann vorsorglich bestimmte Antibiotika ein, die dem Patienten ein hohes Maß an Sicherheit bieten“, erklärt Parodontitis-Spezialist Wachtel.
Parodontitis kann aber nicht nur für Herzpatienten, sondern auch für Diabetiker zu einem ernsten Problem werden. „Die Entzündung des Zahnhalteapparats ist bei ihnen stärker ausgeprägt, schreitet schneller voran und macht die Blutzuckereinstellung schwieriger. Mit Diabetes kann der Zahnverlust bis zu 15-fach höher sein als ohne Zuckerkrankheit“, berichtet Professor Diethelm Tschöpe, Direktor des renommierten Diabeteszentrums Nordrhein-Westfalen und Vorsitzender der Stiftung Der herzkranke Diabetiker (DHD). „Durch Parodontitis steigt neben dem Risiko für Herzprobleme auch die Wahrscheinlichkeit für Folgen, die bekanntermaßen mit Diabetes in Verbindung gebracht werden. Das kann Nieren und Nerven betreffen. Insbesondere, wenn Menschen am Herzen und zusätzlich an Diabetes erkrankt sind, wirkt sich eine Parodontitis ungünstig auf den Krankheitsverlauf aus.“
Diabetiker sind besonders gefährdet
Zudem gilt: Menschen mit grenzwertigen Blutzuckerwerten sollten Kontrolltermine beim Zahnarzt besonders ernst nehmen. „Sie haben ein höheres Risiko, an Diabetes zu erkranken“, so Tschöpe.
Das Dilemma dabei: Durch Corona habe sich die Parodontitis-Problematik verschärft, berichtet Zahmmediziner Wachtel. „Aus Angst vor einer Covid-Ansteckung haben viele Patienten ihren Zahnarztbesuch hinausgezögert. Viele sind auch nicht zur professionellen Zahnreinigung gegangen.“ Doch gerade letztere gilt als wichtige Waffe im Kampf gegen Parodontitis. Dabei reinigt die Dentalhygienikerin die Zähne und Zahnzwischenräume mit speziellen Instrumenten wie feinen Bürstchen oder einem Sandstrahler. Außerdem misst sie die Tiefe der Zahntaschen. Als Faustregel gilt: Je tiefer die Taschen sind, desto wachsamer müssen die Behandler mit Blick auf starke Parodontitis sein. Bei einer Studie der Universität von Ostfinnland kristallisierte sich heraus, dass Patienten mit mehr als sechs Millimeter tiefen Zahntaschen ein mehr als doppelt so hohes Diabetes-Risiko haben – mal abgesehen vom drohenden Zahnverlust.
Trotzdem gehen viele Parodontitis-Patienten nicht oder zu spät zum Arzt. Experten wie Wachtel schätzen, dass bis zu 20 bis 30 Millionen Bundesbürger betroffen sein könnten. „Damit setzt sich rein statistisch gesehen jederdritte Deutsche zumindest langfristig einem häufig vermeidbaren Verlust an Lebensqualität sowie einem erhöhen Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko aus.“ Um solche und andere schwerwiegenden Erkrankungen zu verhindern, rät die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie (DG Paro) zu halbjährlichen Vorsorgeuntersuchungen beim Zahnarzt.
Selbsttest als Orientierungshilfe
Als Orientierungshilfe hat die renommierte Fachgesellschaft einen Selbsttest für Patienten erarbeitet. Wenn man eine der folgenden sieben Fragen mit ja beantwortet, dann sollte man unbedingt zum Zahnarzt gehen:
. Ist Ihr Zahnfleisch geschwollen?
. Blutet Ihr Zahnfleisch beim Zähneputzen oder bei der Benutzung eines Zahnstochers bzw. anderer Hilfsmittel zur Zahnreinigung?
. Ist Ihr Zahnfleisch zurückgegangen?
. Beobachten Sie eine zunehmende Lockerung der Zähne?
. Tritt eine gelbliche, eiterähnliche Flüssigkeit am Zahnfleischsaum aus, wenn Sie Ihr Zahnfleisch massieren?
. Hat sich Ihre Zahnstellung verändert und haben sich dabei Lücken gebildet?
. Haben Ihre Eltern oder Geschwister Zähne frühzeitig durch Zahnlockerung verloren? MM