von Redaktion

VON NICOLA FÖRG

Samstagvormittag, Olhas Telefon läutet ununterbrochen. Es ist eine verzweifelte Frau, die in Olhas Laden Katzenfutter kaufen will, weil ihre Tiere Hunger haben… Aber Olhas Tierladen in Kiew ist geschlossen. Weil sie mit Sohn Andrii geflohen ist. Zusammen mit einer Bekannten, deren Tochter und drei kleinen Hunden. Im Auto, mit eilig gepackten Taschen. Nach endlosen Stunden kommen die Flüchtlinge völlig übermüdet in einem Städtchen in der Westukraine an. Dort haben sie ein Übernachtungsangebot. Doch angesichts der drei Hunde ist der Gastgeber kategorisch: Menschen ja, Hunde nein. Die müssen draußen bleiben. „Was ist das?“, fragt Olha. „Ich will helfen, Menschen ja, Tieren nein?“

Sie übernachtet dann mit ihrem Sohn in einer leer stehenden Wohnung. Ohne ihre Bekannte, die schon an Olhas Verstand zweifelte. Warum mit diesen Tieren? Mit einem winzigen Chihuahua namens Zosia, mit Pomeranian-Spitz Eva und Yorkshire-Terrier Toni? Mit Tieren, wo es doch um Menschenleben geht…

Alle drei Hunde stammen aus schlechten Verhältnissen, verbrachten ihr Leben in Käfigen, Olha hatte sie gerettet und stellt nicht allen Landsleuten ein gutes Zeugnis aus. „Viele haben einen Hund als Modeaccessoire, Hunde, die nie den Fußboden betreten. Ein Mann, der bei mir einkauft, hat einen Spitz, der sieben Jahre alt ist und noch nie die Wohnung verlassen hat.“

Olhas Trio durfte in Kiew selbstverständlich Gassi gehen, in einer Stadt, wo es nur ein paar sandige Flächen mit maximal ein paar Grasbüscheln gibt. „Da stürzen sich dann 20 Hunde drauf“, sagt sie. Sie wollte nicht gehen. „Ich habe über sieben Nächte mit der Entscheidung gehadert. Und es doch getan, vor allem für mein Kind.“ Ihre Eltern wollten bleiben, der Papa war als Soldat 1986 in Tschernobyl, als Verstärkung für jene, die dort das Feuer löschten. Von seinen Kameraden lebt keiner mehr, er selbst ist krank, sieht kaum noch.

Andrii redet nicht viel. Er und Toni sind ein Herz und eine Seele. Der Terrier klebt an seinen Hacken, sie brauchen sich gegenseitig. Olha wollte auch nicht gehen. Wegen der anderen Tiere. Sie hatte rund 30 zurückgelassene Katzen in ihrem Viertel gefüttert, Andrii hat auf dem Schulweg immer Futter im Rucksack. Es ist diese Schizophrenie in vielen Ostländern. Das eigene Kätzchen, den eigenen Hund hegt man, Straßentieren schenkt man keine Beachtung.

„Rund um Kiew gibt es viele Zufluchtsstationen, wo nun Hunde und Katzen in Käfigen gefangen sind und elend verhungern und verdursten werden, weil keiner sie noch versorgen kann.“ Eine Freundin hat aus einer dieser Anlagen 250 Hunde geholt, 300 andere zurückgelassen. Entscheidungen, die Herzen brechen. Eine italienische Tierschützerin ist mit ihrem VW Bus ins Krisengebiet gefahren, um Tiere zu retten. Freundinnen von Olha sind bei solchen Einsätzen ums Leben gekommen.

Auf ihrer Flucht standen Olha und Andrii dann 30 Stunden vor der polnischen Grenze, das Benzin drohte auszugehen. Hinter der Abfertigung: Alle Hotels oder Pensionen überfüllt, sie ergatterten mit Mühe und Not noch irgendwo ein Bett. Über Dresden und München gelangten sie am 9. März in der Nacht nach Weilheim, weil es eine Tante gab, die einen kannte, der einen kennt… Vieles läuft dieser Tage über Ecken, es lief über Vitali und Juri und am Ende über Wladimir, ein Landsmann, der schon lange im Landkreis lebt und sich nun als eine Art private Auffanghilfe versteht, mit dem Landratsamt kommuniziert und Plätze sucht. Mit drei Hunden auch in privaten Unterkünften sehr schwer. Doch man trifft auch auf jene, die ohne Wenn und Aber auch Tiere unterstützen. Weil sie Respekt vor Mitgeschöpfen haben. Wenn es Bilder gibt, die das beweisen, dann jene der Flüchtenden selbst. So viele Tiere im Gepäck, so viele Kinder, deren Haustier der letzte Halt ist. Der Papa im Kampf, Oma und Opa im Keller, immerzu die grausame Vorstellung, dass man sie nie mehr wiedersehen könnte.

„Da war diese junge Frau, die einen alten Schäferhund 17 Kilometer zur Grenze getragen hat. 17 Kilometer!“, sagt Olha und tätschelt liebevoll ihre Tiere. Für die Hunde ist echtes Gras völlig ungewohnt. Sie staksen mehr über das Neuland und tun sich schwer, darauf einen Haufen zu legen. In Kiew haben sie ein Hundeklo, etwas, was es beim Besuch im hiesigen Tierzubehörhandel nicht gibt. Die jungen Mitarbeiter fallen vom Glauben ab. Was? Ein spezielles Hundeklo?

Olha ist wieder am Handy, die Nachrichten aus Kiew sind bitter. Überall laufen auch Pferde herum, es gibt Tierschützer, die versuchen, sie einzufangen und in Ställen in Wäldern zu verstecken. Ihre Eltern versuchen Optimismus zu verbreiten, sie hätten gerade noch einen Laden gefunden, wo es Eier gab. Dann kommt der samstägliche Probealarm der Feuerwehr. Die Gefasstheit ist vorbei, da ist pure Angst. „Nur ein Probealarm, alles gut, wirklich!“

Das Gesicht von Andrii wirkt blass und starr. Ein Kind sollte lachen. Er drückt Toni ganz eng an die Brust. Er würde Toni gegen alles und jeden verteidigen. Und Toni ihn. Der Zwerg bellt am zweiten Tag gleich mal die Hunde auf dem Hof an. „Das ist jetzt mein Haus“, verkündet er damit frech. Am späten Nachmittag ein Spaziergang, der winzige Pomeranian-Spitz Eva ist voller Energie. Am Horizont stehen die verschneiten Berge Spalier. Der Bub lächelt. „Mountains are great.“ Es ist ein Anfang…

Artikel 6 von 8