München – Es ist diese ständige Angst, die wie ein grauer Schleier über dem Leben der eigentlich sehr glücklichen Münchner Familie Böhm liegt. Die Angst vor Maries nächstem Krampfanfall. Die Angst vor der ungewissen Zukunft. Die vielen Fragen, auf die es niemals Antworten geben wird – speziell auf diese eine nicht, an die man kaum zu denken wagt: Wieviel gemeinsame Zeit mit Marie wird der Familie noch geschenkt? Werden es Wochen, Monate, Jahre sein? Oder wird es doch rechtzeitig das ersehnte Medikament geben, damit Marie mit dieser Krankheit leben kann? Denn Marie Sophie Böhm (2) leidet an einer überaus seltenen Genmutation – so selten, dass weltweit nur 400 Fälle beschrieben und Forschungsgelder rar sind. Von all dem weiß Marie nichts. Sie will einfach nur lachen, spielen und ihre Welt entdecken – eine einzige Liebeserklärung an das Leben.
Die sogenannte „de-Novo“-Mutation betrifft das SCN8A-Gen und kann potenziell lebensgefährliche epileptische Anfälle auslösen, die selbst auf der Intensivstation schwer zu stoppen sind. Der Zusatz „de Novo“ steht für eine spontane Genmutation, wird also nicht von den Eltern übertragen. Eine folgenschwere Laune der Natur, die das Leben von Tamara Böhm, ihrem Ehemann Uwe und Maries großer Schwester Sarina von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt hat.
Natürlich war Tamara Böhm sehr bald aufgefallen, dass Marie zu wenig und oft auch schlecht schlief. Am Tag ihrer Geburt lag das Baby bereits zehn Stunden lang wach. Auch der Moro-Reflex – das für Säuglinge völlig normale, gelegentlich ruckartige Ausbreiten der Arme und Spreizen der Fingerchen in den ersten drei bis sechs Monaten – kam bei Marie auffallend oft vor. Heute weiß man: Möglicherweise waren dies bereits erste, kurze Anfälle.
Doch auf diese Idee kam zunächst niemand, schon gar nicht die überglücklichen Eltern. Am 13. Juni 2020 war ihr Wunschkind ohne Probleme in einer Münchner Klinik zur Welt gekommen. Fünf Monate lang schien sich die Kleine völlig normal zu entwickeln. Bis zu jenem 10. November 2020. Tamara Böhm erinnert sich schmerzhaft genau an jedes Detail: „Marie hatte wieder sehr schlecht geschlafen. Doch jeder Arzt hatte uns bis dahin versichert, dass das in dem Alter normal sei.“ Also sang Tamara für sie, bis die Kleine auf ihrer Brust einschlief: „Sie schreckte mehrfach kurz auf. Ich dachte, das ist wieder dieser Moro-Reflex. Aber dann gab Marie plötzlich ein ganz seltsames, fremdes Geräusch von sich.“ Im gleichen Moment wurde ihr kleiner Körper stocksteif, die Händchen ballten sich zu Fäusten: „Innerhalb von dreißig Sekunden lief ihr Gesicht blau an. Ich wusste, dass ich jetzt die Nerven behalten und keine Sekunde verlieren darf, um mein Kind zu retten.“
Tamara wählte die Notruf-Nummer 112, rannte mit Marie im Arm auf die Straße. Ein Bauarbeiter erkannte den Ernst der Lage, eilte ihr zu Hilfe. „Wir dachten, sie hat einen Herzstillstand. Ich wusste ja nicht, dass dies ein epileptischer Anfall war.“ Der Notarzt war schnell da. Bei der Ankunft in der Klinik erlitt Marie schon den zweiten Anfall. Sie wurde sofort auf die Intensivstation einer Kinderklinik verlegt, bekam sehr starke, krampflösende Beruhigungsmittel. Trotzdem erlitt sie im Laufe des Tages weitere Krampfanfälle. Es folgten alle nur denkbaren Untersuchungen inklusive Magnetresonanztomografie (MRT). „Aber alle blieben ohne Befund. Und unsere Hoffnung auf Heilung schwand.“
Die Ärzte gingen zunächst davon aus, dass Marie unter einer frühkindlichen Epilepsie litt, die sich im Laufe der Jahre verwachsen würde. Die Böhms wussten aber auch, dass viele solcher zunächst rätselhaften Erkrankungen einen genetischen Hintergrund haben: „Wir bestanden auf eine humangenetische Untersuchung.“ Kurz danach stand die Diagnose fest: Eine Mutation im SCN8A-Gen. Während die Ärztin noch die richtigen Worte suchte, den Eltern das Unbegreifliche zu erklären, drückte Tamara ihre Kleine an sich und weinte hemmungslos. Später verließ sie die Klinik „in der unabänderlichen Entschlossenheit, niemals die Hoffnung aufzugeben. Daran halte ich mich bis heute fest.“
Sie begann zu recherchieren, stieß auf die Internetseite thecutesyndrome.com – eine internationale Plattform für Eltern von Kindern mit Mutationen im SCN8A-Gen, die sich dort austauschen, unterstützen und Spenden für die Forschung sammeln.
Verlässliche Prognosen zu Maries Entwicklung sind kaum möglich. Die meisten Kinder sind und bleiben im Laufe ihres Lebens beeinträchtigt. In den schwersten Fällen können sie nicht sprechen, sitzen oder ohne Hilfe essen und leben in der ständigen Gefahr eines Herzstillstandes bei schweren Anfällen. Ohne ein rettendes Medikament werden weiter Kinder den Kampf gegen die Erkrankung im Säuglings- oder Kleinkindalter verlieren.
Marie hat sich bis heute sehr gut entwickelt. „Doch jeder neue Anfall bedeutet, dass sie wieder mit Blaulicht auf die Intensivstation muss. Und wir nur hoffen können, dass sie auch dieses Mal wieder zu uns zurückkommt.“ Der Alltag der Familie hat sich seit jenen Novembertagen völlig verändert. Die Eltern überwachen Marie rund um die Uhr. Mehr als zwei Stunden schläft Tamara nie. „Für uns spielt es keine Rolle, ob Marie jemals in irgendeine Schublade passen wird. Alles, was wir uns wünschen, ist, dass sie glücklich ist.“
Warum es gerade ihr Kind traf – auch darauf wird Tamara nie eine Antwort bekommen. „Vielleicht ist Marie hier, um der Welt ihre Geschichte zu erzählen. Wir träumen von einer Welt, in der kein SCN8A-Kind mehr in ständiger Lebensgefahr schwebt. Nichts ist wertvoller als das Leben eines Kindes. Und nichts ist stärker als unsere Liebe zu ihnen.“
Spenden:
Wenn Sie Geld spenden möchten für die Erforschung der tückischen Krankheit, finden Sie Infos und Konten unter den Links folgender beiden Organisationen: https://gofund.me/c2e1ca7c
und
www.thecutesyndrome.com