Der Begriff Zeit hat eine neue Bedeutung für Christa (74) und Dr. Wolf Brückner (78). Früher – da hatte das Ehepaar immer viele Pläne gemacht. Heute zählt der Augenblick. Denn Christas Reise ins Vergessen hat begonnen. So haben die beiden beschlossen, den Tatsachen ins Gesicht zu schauen – und jeden Tag aufs Neue das Beste daraus zu machen.
Vor fast 30 Jahren erfuhr Christa Brückner, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an Morbus Alzheimer erkranken könnte. Seit damals, als ihre Mutter (†70) an der seltenen, frühen Form dieser Erkrankung starb. Christa Brückner hatte damals Germanistik und Anglistik studiert, kümmerte sich um Kinder, Mann und Haushalt und startete beruflich neu als psychoanalytische Therapeutin für Kinder und Jugendliche. Ihr Mann, der Allgemein-Mediziner Dr. Wolf Brückner, hatte eine Praxis in Großhadern. 1994 meldeten sich die beiden bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft für eine Studie an: „Wir wollten es einfach genau wissen.“ Beim Gentest kam heraus, dass Christa eine Teilveranlagung der Alzheimer-Erkrankung geerbt hatte. „Was nicht bedeutete, dass ich es auch wirklich bekommen würde. Damit konnte ich ganz gut umgehen.“
Und so lebten die Brückners ihr Leben mit vielen Hochs und auch den Schicksalsschlägen, die sie nur noch enger verbanden. Tochter und Sohn haben eigene Familien gegründet und den beiden drei Enkel geschenkt.
Rückblickend meint Wolf Brückner, dass seine Frau bereits vor etwa zehn Jahren erste Symptome zeigte. „Sie vergaß, ihre Pillen zu nehmen. Die Schere lag nicht mehr am Platz, das Handtuch war verschwunden.“ Anfangs nervte ihn das. Mittlerweile ist das nicht mehr so wichtig: „Heute sage ich ganz freundlich: deine Pillen warten auf Dich. Ich lerne täglich, Christa nicht zu bevormunden, sie nachdenken, ausreden, selbst entscheiden zu lassen.“ Und sie dankt es ihm täglich mit Liebe und Vertrauen.
Menschen, die Christa Brückner neu kennenlernen, merken bei kurzen Begegnungen so gut wie nichts. Dennoch haben die Brückners beschlossen, offen mit Christas Alzheimer-Erkrankung umzugehen. „Wir meinen: Die Wahrheit muss auf den Tisch. Das sind wir unseren Freunden sogar schuldig. So können wir alle zusammen besser damit umgehen.“
Das Ehepaar lebt seit 25 Jahren glücklich am Ammersee. Die Zeit der großen Pläne ist vorbei: „Für uns zählt heute der Augenblick.“ Die Freude an der Musik, am Gesang, am Radeln. Christas Liebe zu Pferden und Büchern. Das gemeinsame caritative Engagement für Menschen in Not. Die Treffen mit Freunden, die Reisen. Auch Erotik und körperliche Nähe: „Ich schlafe gut, wenn ich Wolf neben mir spüre und beim Einschlafen seine Hand halten kann“, sagt Christa Brückner und lächelt. Auch Humor spielt eine große Rolle. Oft lachen die beiden schon morgens im Bett: „Wir witzeln gern und oft.“
Es gibt aber auch diese schwarzen Löcher. Tage, an denen Christa schon beim Frühstück weint. Und er sie fragt: „Was macht Dich traurig?“ Es ist das Wissen um zunehmende Persönlichkeitsverluste in der Zukunft, das ihr Selbstbewusstsein angreift. Dann sagt sie harte Sätze wie: „Ich bin halt zu blöd. So will ich nicht leben.“ Oder: „Bring mich in die Schweiz.“ Und spricht damit das Thema Sterbehilfe an. Der Tod wird nicht verdrängt im Hause Brückner – „er ist schließlich unser aller Weg“. Ihre größte Angst ist, dass ihr Wolf vor ihr sterben könnte. Gerade hat er zehn Kilo abgenommen: „Ich tue mein Bestes, dass das nicht passiert.“
In all den Jahren nahmen die Brückners regelmäßig an Studien, Tests und Kursangeboten des LMU-Instituts teil. Noch 2017 konnten die Ärzte keine signifikanten kognitiven Einschränkungen bei Christa Brückner feststellen. Seit einem Jahr ist die Diagnose endgültig. Manchmal verliert sie jetzt im Gespräch den Faden, sucht nach Worten, vergisst Zusammenhänge. Sie befindet sich im frühen Stadium der Alzheimer-Erkrankung und tut alles, um den Verlauf aufzuhalten. Ihr stärkster Halt ist ihr Mann, der diesen Weg mit ihr gemeinsam geht: „Wir füllen jeden Tag mit ein wenig Lebensfreude und sind dankbar. Wir haben wirklich jeden Grund dazu.“ DORITA PLANGE