Weltpremiere auf der Wiesn

von Redaktion

VON ANDREAS BEEZ

München – In der Sanitätswache auf der Theresienwiese geht’s traditionell zu wie im Taubenschlag. Allein am ersten Oktoberfest-Wochenende mussten sich die Retter um 621 Patienten kümmern, darunter viele in einer nicht gerade berauschenden Verfassung. Zwar sind die Sanitäter und Notfallmediziner diesen Ausnahmezustand seit Jahren gewohnt. Aber heuer bereitete der Wiesn-Einsatz den Voll-Profis schon lange schlaflose Nächte, bevor überhaupt die erste Bierleiche bei ihnen abgeliefert wurde.

Das Schreckgespenst trug einmal mehr den Namen Corona. Vor ihm hatten mehrere Mediziner die verantwortlichen Politiker gebetsmühlenartig gewarnt – aus tiefer Sorge, dass das größte Volksfest der Welt zum größten Superspreading-Event in der Geschichte dieser Pandemie mutieren könnte. Sie befürchten ernste Folgen: wieder mehr Patienten in den Münchner Krankenhäusern bei gleichzeitig noch weniger Personal, weil sich auch Pflegekräfte und Ärzte verstärkt mit dem Virus infizieren. So beziffert der Virologe Prof. Oliver Keppler vom LMU Klinikum die Wahrscheinlichkeit, sich bei einem mehrstündigen Bierzeltbesuch dem Virus auszusetzen, auf 90 bis 100 Prozent. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass man sich auch ansteckt.

Überlastete Kliniken funkten SOS

Trotzdem eine düstere Prognose – zumal die Kliniken seit Monaten vor allem wegen Personalmangel SOS funken. Im Juli war die Lage so angespannt, dass die Sankas mitunter an überlasteten Notaufnahmen abblitzten oder bis zu eine Stunde lang warten mussten, bevor sie ihre Patienten übergeben konnten.

Doch als sich abzeichnete, dass die große Wiesn-Koalition um OB Dieter Reiter (SPD) und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) das Fest mit durchschnittlich etwa sechs Millionen Besuchern trotzdem unbedingt durchziehen will, brauchten die medizinischen Krisenmanager einen Plan B. „Unsere Herausforderung besteht darin, die Patienten auf der Wiesn optimal zu versorgen und die Notaufnahmen der Kliniken gleichzeitig so wenig wie möglich zu belasten“, erläutert Prof. Viktoria Bogner-Flatz, und ihr Kollege Dr. Dominik Hinzmann ergänzt: „Wir wollten den maximalen Standard des Machbaren setzen.“ Deshalb brüteten die beiden Münchner Krankenhaus-Koordinatoren die kühne Idee aus, eine Computertomografie-Anlage direkt neben die Bierzelte zu karren.

Dabei ging es ihnen vor allem um die Diagnose von Kopfverletzungen – etwa nach Stürzen oder Schlägereien, schlimmstenfalls mit Masskrügen. Dabei besteht die Gefahr einer Hirnblutung. Wenn sich diese möglicherweise lebensbedrohliche Verletzung nicht relativ sicher ausschließen lässt, ordnen Notfallmediziner in der Regel eine Computertomografie (CT) an. Sie liefert Schnittbilder vom Gehirn – und damit meistens sofort Klarheit, wie ernst es um den Patienten bestellt ist.

Deshalb wurden Wiesn-Patienten mit schweren Kopfverletzungen stets in Kliniken eingeliefert – bis Bogner-Flatz und Hinzmann eine mobile CT-Anlage von Siemens organisierten. Am ersten Wochenende landeten bereits 31 Patienten in der Diagnose-Röhre, aber „nur“ sieben Patienten kamen ins Krankenhaus. „Zum Teil mit Blutungen, aber auch mit Schädelfrakturen“, berichtet Dr. Philipp Kampmann, Chefarzt der Aicher Ambulanz, die die Sanitätswache auf der Wiesn betreibt. „Beim Großteil der Patienten konnte aber durch die Computertomografie eine Blutung im Kopf ausgeschlossen werden.“ Das half, die Zahl der Abtransporte so gering wie möglich zu halten. „Insgesamt mussten wir nur etwa fünf Prozent der 621 Patienten an Kliniken außerhalb der Wiesn übergeben“, so Kampmann.

Radiologie-Chef: „Idee wird Schule machen“

Experten sind sich einig: Der CT-Coup könnte der Schlüssel dazu sein, die Mehrbelastung der Kliniken auch in den kommenden anderthalb Wochen und in Zukunft bei ähnlichen Großveranstaltungen spürbar abzufedern. „Das ist eine Weltneuheit. Die Idee wird Schule machen auf den großen Volksfesten auch über München hinaus“, glaubt Prof. Jens Ricke, Radiologie-Direktor des LMU Klinikums. Sein Team aus erfahrenen Notfalldiagnostikern wertet die CT-Bilder direkt auf der Wiesn aus. Zur Qualitätssicherung nutzen die Radiologen auch modernste Diagnose-Technik auf der Basis künstlicher Intelligenz – genauer gesagt eine spezielle Software des Münchner Gesundheits-Start-up deepc. Diese gleicht die aktuellen CT-Bilder des Patienten mit einer Fülle von Befunden aus der Datenbank des LMU Klinikums ab. Falls das Computerprogramm dabei etwas Verdächtiges entdeckt, markiert es die entsprechenden Stellen und zeigt diese an.

Dass die mobile CT-Anlage rechtzeitig zur Wiesn einsatzbereit war, bewerten Fachleute wie Ricke als nicht selbstverständlich: „So ein Projekt in wenigen Wochen zu realisieren, ist spektakulär. Das ganze Land hat an einem Strang gezogen.“ Das Lob geht insbesondere an die Adresse seiner Kollegen Bogner-Flatz und Hinzmann. Die Krankenhaus-Koordinatoren sind nach zweieinhalb Jahren Corona-Krisenmanagement bestens vernetzt mit den Entscheidern in Stadt- und Staatsbehörden. Sie überzeugten OB Reiter von dem CT-Plan, organisierten bei der Regierung von Oberbayern eine Betriebsgenehmigung im Expresstempo.

Die Anlage selbst stammt aus der Notfallreserve von Siemens. Das Unternehmen hält einige mobile CT-Leihgeräte vor – für den Fall, dass in einer Klinik oder einer radiologischen Praxis eine Anlage ausfällt und rasch Ersatz benötigt wird. Auf der Wiesn ist die CT-Anlage in einem Container untergebracht.

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