Wie fühlt es sich für Menschen an, wenn der Staat überall seine Augen hat und selbst die intimsten Bereiche ausspioniert? Sich dazu perfider Abhör- und Beobachtungstechniken bedient und auch nicht davor zurückschreckt, ein allumfassendes Spitzelsystem zu installieren, bei dem keiner mehr sicher sein kann, das selbst Freunde und Familie zu Denunzianten und Verrätern werden? Ein Albtraum, der sich in der Geschichte immer wiederholt, sei es aktuell in Russland oder China. Und in der jüngeren Vergangenheit in der DDR, die die Systemtreue ihrer Bürger so perfekt wie wahnhaft überwacht hat.
Wie gnadenlos das Regime Abweichler verfolgt und alle Menschen in deren Umgebung drangsaliert hat, selbst wenn diese von dem aufwieglerischen Tun der „Staatsfeinde“ nichts gewusst haben, davon erzählt dieser verstörend-intensive Roman. Der auch keinen Zweifel daran lässt, dass damals erlebte Verfolgung und Unrecht bis heute Hass und Misstrauen selbst in der nachfolgenden Generation nähren und ganze Familien entzweien.
Geschildert wird das Drama einer Familie, die zur DDR-Zeit in Ost-Berlin gelebt und nach der Wende in London ein neues Zuhause gefunden hat. Der Tod der Mutter 2009 und deren Tagebuch konfrontiert die sensible wie intelligente, aber beruflich gescheiterte Ella mit ihrer Vergangenheit. Als Achtjährige hat sie das für sie, ihre Eltern, Großeltern und ihre beiden Brüder schicksalhafte Jahr 1987 erlebt, in dem die Flucht von Ungarn in den Westen verheerend gescheitert ist: Ihr Vater tot, die Mutter verhaftet, der kleinste Bruder seither spurlos verschwunden. Ella beschließt, sich endlich ihren Dämonen zu stellen, die (gewollte) Sprachlosigkeit der Mutter zu durchbrechen, um ihren Bruder Heiko – und ihren Seelenfrieden – zu finden. Doch die Reise zurück erweist sich als schmerzhaft. Die Stasi-Akten in Berlin führen zu immer neuen Rätseln, ihre Gesprächspartner, alte DDR-Kader, geben sich bedeckt bis unwillig – oder als überzeugte Täter. Sie trifft auf vom System gebrochene Menschen, wie ihre Mutter von Haft und Willkür gezeichnet. Und muss entdecken, dass die Wahrheit noch quälender sein kann als jede Verdrängung – auch als sie ihren verlorenen Bruder wiedertrifft.
Ein erschütterndes Zeitdokument und zugleich düstere Warnung vor jedweder totalitaristischer Ideologie.