In Bayern sieht man wirklich große Gänseschwärme eher selten. Meist kommen die Vögel zum Überwintern aus weiten Teilen Nordeuropas, der Arktis und selbst aus Sibirien nur bis in die nördlichen Teile von Deutschland, um am Niederrhein, an den Küsten oder den Inseln der Nordsee die kalte Jahreszeit zu verbringen. Dennoch finden viele Gänse ihren Weg bis nach Bayern, nicht weniger als sieben verschiedene Arten zählen Vogelschützer. Nicht selten sind die Tiere irgendwo ausgebüxt und allmählich verwildert. Sie haben allerdings ein Problem: Sie besitzen kein tradiertes Überwinterungsgebiet. „Im Herbst tickt im Vogel quasi die Uhr: Jetzt muss ich los! Bloß wohin? Gänse ziehen im Familienverband und wenn sich irgendwo eine Population neu angesiedelt hat, z. B. in einem Parkgewässer, konnten die Jungtiere ja nicht von ihren Eltern lernen, wo es im Winter hingeht. Sie bilden dann mit ihren Nachkommen quasi eine Privattradition aus“, erklärt Sophia Engel vom Landesbund für Vogelschutz (LBV) in München.
In jedem Fall brauchen Gänse offenes Wasser und schneefreie Flächen. Anders als Enten, weiden Gänse fast ausschließlich an Land. Für sie ist es schwieriger, in strengen Wintern, Nahrung zu finden. Weil aber nun seltener Schnee fällt und auch Seen weniger häufig zufrieren, bleiben die Vögel und versuchen, falls es doch einmal kalt wird, die Situation auszusitzen. Geht das schief, sind die Tiere aber zu schwach, um noch wegzufliegen.
Gänse sind, obwohl Wasservögel, Weidetiere. Das mag überraschen, aber die Vögel leben von Gras, sie weiden es ab und erhöhen so die Artenvielfalt, denn wo harte Stängel schnell alles überwuchern, wo Wiesen verkrauten, da hilft die Beweidung, dass Kräuter und Blumen aufkommen. „Eine natürlich gewachsene Weidefläche bindet mehr Kohlenstoff als Waldboden. Was Gänse erschaffen, ist eine Vorstufe von Humus. Der bindet CO2“, erläutert Engel. Gänse als Klimaschützer? Und das ganz ohne Methan-Ausstoß? Nun ja, beliebt sind ihre Ausscheidungen eher weniger, zumal, wenn man ihnen an Seeufern oder auf Liegewiesen begegnet. Doch hebt man einen Gänseköttel auf und zerdrückt ihn, ist da nur Gras bzw. klein gehäkseltes Gras. Nichts Ekliges also!
Wer im Sommer unter den Badegästen eben auch Gänse findet, entdeckt die Erklärung auch in deren Biologie. „Die Gänse sind vor allem da, weil sie von Mitte Juni bis etwa Mitte Juli mausern und dabei vorübergehend flugunfähig sind. Sie können also gar nicht wegfliegen, sie müssen bleiben, weil sie eine Wiese neben einem Gewässer brauchen. Die Mauser-Zeit kollidiert nun mal mit der Hauptbadezeit freizeithungriger Menschen. Wenn man Gänse von Badenden trennen wollte, müsste man ihnen eine abgemähte Wiese nebenan anbieten“, weiß Engel. Apropos Biologie: In diesem Jahr gab es eine Mischbrut aus Nonnen- und Streifengans. Die Jungen sind Hybride, meist nicht fortpflanzungsfähig. Die sehen zwar ungewöhnlich aus, sind aber zum Außenseiter-Dasein verdammt. Gänse leben in einem starken Sozialverband, die Familie bleibt beisammen. Die Hybride werden aber nicht als Artgenossen anerkannt, möchten aber auch einen Partner haben! Wenn man bedenkt, dass so eine Gans 20 Jahre alt werden kann, ist das sehr traurig.
Dieses komplexe Sozialgefüge sollte neben der Ethik die Gänsejagd komplett infrage stellen: „Gänse sind ihrem Partner treu, oft ein Gänseleben lang. Sie pflegen einen weiten Familien- und Freundeskreis, den sie in der Jugend aufbauen. Die großen Gänsegruppen außerhalb der Brutzeit – für uns nur ein großes Durcheinander auf dem See – sind aus ihrer Sicht ein Treffen befreundeter Familiengruppen. Wer Gänse jagt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er Familienverbände zerreißt“, sagt die Biologin. Und wenn das Partnertier geschossen wird, trauert das übrig gebliebene Exemplar. Die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle (KLF) im österreichischen Almtal hat bei diesen die gleiche hormonelle Veränderung gemessen wie bei einem trauernden Menschen.
Dass die Jagd auch kontraproduktiv sein kann, zeigt das Beispiel aus dem Nymphenburger Schlosspark. Nach einem Abschuss ist an die Stelle der Kanada-Gänse eine fast vierfach höhere Population an Graugänsen in die frei gewordenen Reviere nachgerückt.
„Erwachsene Gänse haben bei uns keine natürlichen Feinde. Dennoch wächst ihre Population nicht ins Unendliche: Das Angebot an Brutplätzen und geeigneter Nahrung regelt den Bestand. Zudem ist die Sterblichkeit in den ersten Jahren sehr hoch: Aus mindestens der Hälfte der Eier schlüpft nie ein Gössel. Nach dem Schlupf sind die noch flugunfähigen Gössel extrem gefährdet, der größte Teil erreicht das flugfähige Alter nicht. Und selbst als Jungtiere haben sie in den ersten Lebensjahren noch eine höhere Sterblichkeit als Altvögel“, erklärt Engel. Zu einer Erstbrut kämen viele Vögel gar nicht, so die Biologin. „Wilde Graugänse beispielsweise müssten dazu erst einmal ein Alter von drei bis vier Jahren erreichen!“
>> Interessanter Link www.wildparkgruenau.at/konrad-lorenz-forschungsstelle