Medizin-Hochburg München wackelt

von Redaktion

Top-Ärzte schlagen Alarm: Immer mehr Firmen und Wissenschaftler wandern ins Ausland ab

VON ANDREAS BEEZ

München – In der Welt der Wissenschaft gehört vornehme Zurückhaltung normalerweise zum guten Ton – gerade wenn es um öffentlich vorgetragene Kritik an der Politik geht. Schließlich sind die meisten Forscher auf das (finanzielle) Wohlwollen der Entscheider in Berlin und Brüssel angewiesen. Doch allerspätestens seit den Abwanderungsplänen von Biontech nehmen viele deutsche Wissenschaftler kein Blatt mehr vor den Mund.

Unter Top-Medizinern gilt die Ankündigung der Mainzer Vorzeige-Firma, ihren Impfstoff gegen Krebs zunächst in England zu erproben (wir berichteten), als Paradebeispiel für einen gefährlichen Trend. Sie fürchten, dass immer mehr Pharma- und Medizintechnikunternehmen und auch Wissenschaftler Deutschland den Rücken kehren werden – aus Frust über zu hohe bürokratische Hürden bei klinischen Studien, langwierige Genehmigungsprozesse, zu strenge Datenschutzregelungen, Defizite bei der Digitalisierung sowie bei den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wenn sich daran nicht bald etwas ändere, so die einhellige Diagnose vieler Top-Ärzte, dann wackelt auch die deutsche Medizin-Hochburg München.

„Deutschland wird zum Standort-Nachteil“

„Die Durchführung wichtiger Studien ist oft zu komplex, zu kostspielig und zu langwierig geworden. Statt neue, sichere Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Arzneimitteln und Verfahren zu ermöglichen, stehen die Richtlinien der Erforschung dieser mittlerweile im Weg“, klagen führende Fachgesellschaften für Herzmedizin in einer gemeinsamen Erklärung mit der Deutschen Herzstiftung. Ihr Beiratsmitglied Professor Martin Halle von der TU München wird noch deutlicher: „Wir haben es jahrelang verpasst, die rechtlichen Rahmenbedingungen für medizinische Spitzenforschung auf einen internationalen Standard zu bringen.“ So sei es in Deutschland praktisch unmöglich, Patientendaten ohne erheblichen bürokratischen Aufwand abzuspeichern und anonymisiert für medizinische Zwecke auszuwerten. „Der Datenschutz hat in Deutschland einfach überhand genommen. Unsere Nachbarn – etwa Holland und die skandinavischen Länder – machen uns vor, wie es besser geht. Mit der schockierenden Folge, dass Deutschland bei vielen internationalen Unternehmen inzwischen als Standortnachteil gesehen wird“, warnt Halle.

Für den Münchner Parodontologen Professor Hannes Wachtel, der unter anderem an der Uni in Göteborg forschte und mit einer Holländerin verheiratet ist, zeigt sich das deutsche Dilemma auch bei anderen entscheidenden Faktoren wie der Digitalisierung und zu hohen Kosten bei innovativen Forschungsprojekten. Er verweist auf das Länder-Ranking des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) – eine Art Rangliste der wirtschaftlichen Attraktivität. Darin liegt Schweden beispielsweise auf Rang drei hinter den USA und Kanada, Holland auf Rang neun. Deutschland ist 18. „Nicht nur im Fußball steigt man mit so einem miserablen Tabellenplatz ab“, stellt Wachtel fest.

Droht uns also tatsächlich das Aus in der Champions League der Medizinforschung? „Deutschland muss sich im internationalen Vergleich der Spitzenforschung nicht verstecken. Das sieht man auch an vielen hochkarätigen wissenschaftlichen Publikationen, die in großer Zahl veröffentlicht werden“, kommentierte Prof. Roland Schmidt, Mannschaftsarzt des FC Bayern München und Kardiologe im Krankenhaus Barmherzige Brüder, vergangene Woche bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Bayerischen Zentrum für Krebsforschung in der Allianz Arena. „Aber in anderen Ländern sind die Regelungen beispielsweise für klinische Studien effektiver. Das ist der Grund dafür, dass immer mehr Firmen und Wissenschaftler ins Ausland gehen. Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass Spitzenforschung auch in Deutschland erhalten bleibt.“

Kritik an zu scharfen Datenschutz-Regeln

Ein Schlüssel dazu wäre nach Überzeugung von Professor Rüdiger von Eisenhart-Rothe vom Uniklinikum rechts der Isar ein pragmatischer Umgang mit dem Datenschutz. „Er ist ein hohes Gut. Wir stehen zweifelsohne in der Pflicht, mit den Daten unserer Patienten sensibel umzugehen“, räumt der Gelenkersatz- und Tumorspezialist ein. „Andererseits werden wir unserer Verantwortung als Mediziner nicht gerecht, wenn wir Daten ungenutzt lassen, die wir sehr effektiv zum Wohle unserer Patienten einsetzen könnten.“ Zumal die Patienten durch die restriktiven Regeln gleich doppelt bestraft würden, weil viele Gesundheitsunternehmen mit zukunftsträchtigen Therapien und Technologien aus Deutschland abwandern – wie das Beispiel von Biontech zeigt. „Fakt ist: Wenn es um Innovationen in der Medizin geht, ist Deutschland mittlerweile für Firmen und Unternehmen zunehmend unattraktiv“, weiß von Eisenhart-Rothe.

Der eisenharte deutsche Datenschutz treibt auch den Kardiologen Professor Alexander Leber vom Münchner Isarklinikum um: „In der modernen Medizin sind Patientendaten unverzichtbar zum Beispiel für die Nutzung künstlicher Intelligenz. Wenn wir diese Daten in Deutschland nicht zur Verfügung stellen können, dann wird sich die Industrie andere Länder suchen und ihre Projekte dort etablieren.“

Der Infektiologe und Corona-Experte Privatdozent Christoph Spinner vom Uniklinikum rechts der Isar mahnt allerdings an, dass bei aller Kritik an der deutschen Überbürokratie und Regelungswut der Sicherheitsaspekt nicht vergessen werden dürfe. „Es geht ja um Menschen. Bestimmte Regularien und Auflagen für klinische Studien haben durchaus ihre Berechtigung. Wir brauchen bei der Steuerung der Genehmigungsprozesse einen im wahrsten Sinne des Wortes gesunden Mittelweg.“

Doch auch Spinner ist bewusst, dass langatmige Genehmigungsprozesse in vielen Fällen den medizinischen Fortschritt ausbremsen. Und statt diese zu vereinfachen, werden sie noch zusätzlich „stark verkompliziert“, klagen die Fachgesellschaften der Herzmediziner und die Deutsche Herzstiftung.

„Deutschland droht Anschluss zu verlieren“

Dazu komme Regelungswut auf europäischer Ebene, wie der erfahrene Herzchirurg Professor Rüdiger Lange vom Deutschen Herzzentrum kritisiert. Er verweist unter anderem auf das im Juni vergangenen Jahres in Kraft getretene Medizinproduktedurchführungsgesetz: „Es erschwert extrem die Zulassung neuer Produkte und zusätzlich auch die Weiterverwendung bereits bestehender Produkte. Diese Produkte müssen rezertifiziert werden, das erfordert zusätzliche Studien – mit der Folge, dass sich die Herstellung für viele Firmen kaum noch lohnt.“ Zudem würden Wissenschaftler in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern zu schlecht bezahlt. „Das erschwert es, Spitzenforscher und Innovationstreiber in unserem Land zu halten oder auch Kollegen aus anderen Ländern für unsere Forschungseinrichtungen zu gewinnen“, analysiert Lange, der seit 44 Jahren als Herzchirurg tätig und mit Wissenschaftler-Kollegen weltweit bestens vernetzt ist. „Vor dem Hintergrund unserer strukturellen Probleme läuft Deutschland Gefahr, den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren“, so Lange.

Nachteile für viele Patienten

Das wäre auch für die Patienten hierzulande fatal. Denn gerade für Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Krebs kann die Teilnahme an klinischen Studien den Unterschied ausmachen. „Wir haben viele Patienten, die extra wegen der Teilnahme an solchen Studien mit ihren Angehörigen für mehrere Wochen nach München kommen. Sie erhalten dabei modernste Medikamente, die es anderswo noch nicht gibt“, berichtet der Onkologe und Infektiologe Professor Michael von Bergwelt vom LMU Klinikum. „Aber auch für die Weiterentwicklung der Medizin insgesamt sind kontrollierte und damit sichere klinische Studien wichtig. Sie sind unerlässlich, um die Wirksamkeit neuer Therapien zu testen.“

Die Impfstoff-Technologie von Biontech bewertet der erfahrene Krebsspezialist als „weit fortgeschritten und vielversprechend“. Die Corona-Pandemie habe es dem Unternehmen ermöglicht, weitere wertvolle Erkenntnisse zu ihrer innovativen Immuntherapie zu gewinnen. Sie soll das Immunsystem in die Lage versetzen, getarnte Krebszellen zu erkennen und effektiv zu bekämpfen. „Dass der Ansatz vom Prinzip her funktioniert, hat sich beim Einsatz der mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 eindrucksvoll gezeigt.“ Der LMU-Wissenschaftler hält eine Zulassung bereits in den nächsten Jahren für realistisch. Spätestens dann könne er auch in München geeigneten Patienten verabreicht werden. Wie unsere Zeitung berichtet hat, laufen zudem Gespräche mit Biontech über klinische Studien auch in der Landeshauptstadt. Die Mainzer Firma hat eine Dependance in München.

„Fall Biontech sollte Politik wachrütteln“

Ob der Impfstoff alleine in der Lage sei, Tumorerkrankungen in Schach zu halten, müsse sich zwar noch zeigen, sagt von Bergwelt. Aber es gebe Anlass zur Hoffnung, dass er zumindest in Kombination mit anderen Therapien sehr effektiv wirken könne. „Insofern ist es ein Tiefschlag, dass Biontech seine Studie dazu zunächst hauptsächlich in England durchführt und einen wesentlichen Teil seiner Forschung dorthin verlagert. Wir können nur hoffen, dass unsere Politik von dieser Entscheidung wachgerüttelt wird“, betont von Bergwelt.

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