Marburg – Sie sind selten, aber es gibt sie: Schwere, anhaltende Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung. Beim sogenannten Post-Vac-Syndrom entwickeln Menschen ähnliche Symptome, wie sie nach einer Corona-Infektion auftreten können. So zum Beispiel extreme Müdigkeit, Herzbeschwerden, kognitive Einschränkungen. Deutschlandweit gibt es nur wenige Adressen, an die sich Post-Vac-Betroffene wenden können. Eine davon ist das Universitätsklinikum in Marburg. Wir haben mit dem Leiter der Post-Vac-Ambulanz, dem Kardiologen Prof. Dr. Bernhard Schieffer, gesprochen.
Herr Professor Schieffer, was versteht man eigentlich genau unter Post Vac?
Das Post-Vac-Syndrom ist ein chronischer Entzündungsprozess im Körper, der in seltenen Fällen nach einer Corona-Impfung auftreten kann. Die Symptome betreffen unter anderem das Herz-Kreislauf-System. Die Patienten leiden zum Beispiel an Herzrasen, Blutdruckschwankungen oder Schwindel. Dazu treten oft neurologische Symptome wie Konzentrations- oder Wortfindungsstörungen auf. Diese lassen sich unter anderem auf Durchblutungsstörungen im Kopf zurückführen. Auch die Muskulatur kann bei Post Vac betroffen sein. All diese Beschwerden sind meist mit extremer Müdigkeit und Erschöpfung gepaart, die mit einer ME/CFS-Erkrankung (siehe Kasten) vereinbar sind.
Das hört sich sehr nach Post Covid an, also potenziellen Langzeitfolgen nach einer Infektion mit dem Coronavirus.
Die Symptome von Post Vac sind von Post Covid tatsächlich kaum zu unterscheiden. Das klappt nur mit einer intensiven und differenzierten Laboranalyse. In unserer Ambulanz versuchen wir herauszuarbeiten, ob sich der Patient schon mal mit dem Virus auseinandergesetzt hat oder ob das Spike-Protein in seinem Körper ausschließlich von der Impfung stammt. Das kann mit einem Näherungswert bestimmt werden, die Fehlerquote liegt allerdings bei etwa 15 Prozent.
Wie viele Menschen sind schätzungsweise von Post Vac betroffen?
Wir bleiben bei den vom Paul-Ehrlich-Institut genannten Zahlen von 0,03 bis 0,05 Prozent aller geimpften Patienten. Bei 190 Millionen verimpften Impfdosen ist die Wahrscheinlichkeit, an Post Vac zu erkranken, je nach Blickwinkel, niedrig bzw. hoch – insgesamt kommt man natürlich auf eine erkleckliche Anzahl an Patienten. Schätzungsweise so zwischen 50 000 und 150 000, wobei die genaue Anzahl Spekulation ist. Es ist schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen, das wird erst in den kommenden Jahren weiter erforscht werden.
Ist es richtig, dass Frauen häufiger an Post Vac erkranken als Männer?
Ja, in der Altersgruppe zwischen 15 und 45 sind Frauen deutlich öfter von Post Vac betroffen als Männer – ungefähr zwei- bis dreimal so häufig. Das könnte hormonelle Gründe haben. Frauen haben eine größere Tendenz zu autoimmunologischen Prozessen. Es gibt Post Vac aber auch bei Kindern und älteren Menschen.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Die Behandlungsmöglichkeiten liegen hauptsächlich in der Identifikation des Problems, warum der eine ein Post-Vac-Syndrom entwickelt, der andere hingegen nicht. Wir arbeiten mit stoffwechselaktivierenden Prozessen, indem wir zum Beispiel den Cholesterinspiegel beeinflussen. Durch chronische Entzündungsprozesse wird der Cholesterinwert erhöht, cholesterinhemmende Medikamente können dann wiederum entzündungshemmend wirken. Außerdem geht es um die Frage: Was hat der Patient für besondere Probleme? Da arbeitet man Hand in Hand mit anderen Spezialisten wie Lungenfachärzten, Neurologen oder auch mit Psychiatern.
Was können Patienten tun, damit es ihnen besser geht?
Es ist problematisch, dass sich viele Patienten einer Selbsttherapie unterziehen. Sie besorgen sich von irgendwoher die Medikamente, ohne dass sie wissen, was das Problem ist oder wie man die Medikamente richtig anwendet. Wir brauchen in Deutschland dringend mehr Anlaufstellen für die Betroffenen von Post Covid und Post Vac! Generelle Aussagen, was hilft, sind schwer. Man kann sagen, dass sich die Patienten neutraler ernähren und ihren Lebensstil anpassen sollen. Dazu zählt ein eingeschränkter Alkohol- und Fleischkonsum, Abbau von Übergewicht, reduzierte Zuckeraufnahme etc. Manche profitieren von einer Darmsanierung. Was Betroffenen letztendlich hilft, ist von Patient zu Patient unterschiedlich.
Seit wann wissen Sie, dass nach einer Corona-Impfung – wenn auch selten – schwere Nebenwirkungen auftreten können?
Im Dezember 2020 haben wir angefangen zu impfen, ich selber auch. Im Frühjahr 2021 kamen dann die ersten Patienten, die Corona erlebt und überlebt hatten – die haben wir uns ganz genau angeschaut. Zeitgleich kamen aber auch Patienten, die die fast identische Symptomatik zeigten, jedoch keine Infektion durchgemacht hatten, sondern geimpft worden waren.
Sie wussten also bereits zu Beginn der Impfkampagne von schweren Nebenwirkungen?
Dass der Impfstoff Nebenwirkungen hat, war von Anfang an klar. In den Zulassungsstudien oder auch den Post-Marketing-Studien vom Februar 2021 werden Nebenwirkungen aufgeführt. Es wurde außerdem darauf hingewiesen, dass Deutschland ein sogenanntes „Underreporting“-Problem hat, also hierzulande zu wenig Nebenwirkungen erfasst werden. Ich habe diese Vermutung immer wieder geäußert. Dass das Spike-Protein einen derart zerstörerischen Effekt auf unterschiedliche Zelltypen haben kann – das wissen wir gesichert seit ungefähr eineinhalb Jahren.
Leiten Sie die Daten an das Paul-Ehrlich-Institut weiter?
Nein, wir geben die Diagnose „Post Vac“ nicht an das Paul-Ehrlich-Institut weiter, weil es sich immer nur um eine Verdachtsdiagnose handelt. Patienten, die sich bei uns vorstellen, kommen über dritte oder vierte Stellen und haben zeitlich einen sehr hohen Abstand zum eigentlichen Impfereignis, das für uns nur in Teilen rekonstruierbar ist. Wir möchten die Betroffenen so schnell wie möglich wieder auf die Füße bekommen. Und das gelingt uns, bei manchen besser, bei anderen schlechter.
Sie sind neben der Charité in Berlin eine der wenigen Anlaufstellen für Post-Vac-Patienten bundesweit. Wie groß ist der Ansturm?
Der ist riesig. Wir werden von Anfragen regelrecht überrollt. Aktuell stehen 6438 Menschen auf der Warteliste, bei den Terminen liegen wir im Sommer 2024. Aber nicht alle Patienten, die zu uns kommen, haben auch ein Post-Vac-Syndrom. Bei vielen liegen auch andere Probleme vor. Wir haben den Anspruch, diesen Menschen zu helfen. Mit der Charité in Berlin haben wir uns abgestimmt, an anderen Universitätskliniken wird Post Vac nicht betreut. Das muss sich dringend ändern. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens im Umgang mit dieser Erkrankung, denn es wird nicht besser, wenn wir den Kopf in den Sand stecken.
Das Gespräch führte:
Jennifer Battaglia