München – Dieses Bild sieht Thomas Reinbacher noch heute vor sich. An den Türen zur geschlossenen Psychiatrie in der Münchner Nußbaumstraße: Er geht durch die Schleuse, die verhindern soll, dass Patienten ausbüxen, dreht sich um und sieht dort draußen seine Frau Xiaoxi. Nur ein paar Meter und eine Glastür trennen sie voneinander, aber für ihn fühlt es sich unendlich weit an. Er fühlt sich eingesperrt hinter dieser Tür. Doch hat er den Schrittselbst gewählt, aus Angst, sich etwas anzutun, aus Angst vor dem Suizid, aus Angst vor der Angst.
Reinbacher ist ein Erfolgsmensch. Seine Karriere liest sich wie ein Bilderbuch. Abitur, Studium, Promotion – alles mit 1,0. Nebenher Chinesisch gelernt und seine Frau kennengelernt, mit der er einen kleinen Sohn hat. Forscher bei der Nasa, dann Manager bei McKinsey, Amazon und Google. „Für mich gab es immer nur eine Richtung: steil nach oben“, sagt er rückblickend. „Größere Aufgaben, mehr Verantwortung, mehr Geld. Von allem immer mehr.“
Seine Frau fand ihn weinend auf der Couch
Bis zu jenem Tag Mitte September 2021. Er hat gerade erst seinen neuen Posten bei Google angetreten und seit einiger Zeit Probleme mit dem Schlafen. Hört nachts Corona-Podcasts mit Christian Drosten, weil ihm das beim Einschlafen hilft. Fühlt sich ständig müde, wie mit leerem Akku. Seine Frau und er schieben es auf die neue Herausforderung. Doch dann der Schock. Am 16. September will er morgens seine E-Mails lesen – aber es geht nicht. Er liest Buchstaben, Wörter, versteht aber nicht den Sinn der Sätze. Reinbacher bekommt bodenlose Angst. Seine Frau Xiaoxi findet ihn weinend auf der Couch und bringt ihn in die Notaufnahme der psychiatrischen Universitätsklinik. Diagnose: Depression. Er soll sich in die Klinik aufnehmen lassen. Ein paar Tage später checkt er ein, voller Erwartung: „Jetzt wird mir geholfen.“ Seinem Arbeitgeber schreibt er: „Komme in zwei Wochen wieder.“ Und später: „Komme doch erst in zwei Monaten.“ „Komme sicher Anfang des neuen Jahres.“ – „Der Februar ist fix.“ – „Der März ist fix.“ – „Ich kann gar nicht sagen, wann ich zurückkomme.“ Und schließlich: „Ich weiß nicht, ob ich jemals zurückkommen kann.“
52 Tage wird Thomas Reinbacher in der Klinik behandelt, statt Manager-Meetings stehen dort Morgenkreis, Psychotherapie, Achtsamkeit, Angstbewältigung und werteorientierte Verhaltensaktivierung auf dem Wochenplan. Zwölf Stunden pro Woche. „Das war vorher ein normaler Arbeitstag“, stellt Reinbacher fest. Aber mehr würde er nicht schaffen. Nach der Entlassung aus der Klinik folgen fünf Monate „Selbsttherapie“ zu Hause – unterstützt von seiner Psychotherapeutin, mit der er einmal pro Woche spricht. Dann will er wieder in sein altes Leben. Sich seinen Ängsten stellen und sie besiegen. Also zurück in den Job. Seine Depression vertuscht er. Nur die engste Familie weiß Bescheid. Gegenüber Freunden spricht er von viel Arbeit, gegenüber Kollegen von einem Herz-Kreislauf-Problem.
Der Sieg über die Ängste aber bleibt ein Wunsch. Obwohl er privat und beruflich potenzielle Stressfaktoren „ausgemistet“ hat, sagt sein Bauchgefühl jeden Tag „Nein, das ist zu viel!“. Er ignoriert es, kämpft jeden Tag gegen seine Ängste. In der Arbeit merkt das keiner, die Chefin lobt ihn in höchsten Tönen. Doch er selbst wird „jeden Tag weniger“, verliert seine Gefühle, kann nicht mehr schlafen.
Seine Therapeutin schickt ihn wieder zum Psychiater, er bekommt zusätzlich zu seinen Antidepressiva stärkere Psychopharmaka. Sie können nicht mehr verhindern, dass er nach acht Wochen in die nächste schwere depressive Episode kippt. Das erste Mal denkt er ganz konkret an Suizid. Mit seiner Frau macht er sich ein zweites Mal auf den Weg in die Nußbaumstraße und stimmt einer Aufnahme in die geschlossene Abteilung zu. Eine Woche später wird er auf die Depressionsstation verlegt. 88 Tagen verbringt Reinbacher stationär in der Psychiatrie, besucht anschließend neun Wochen eine psychosomatische Tagesklinik. Er lernt, seine Krankheit zu akzeptieren.
„Damals spielten die Gedanken verrückt“
„Der erste Schritt zu meiner Heilung“, sagt er heute. Heute, nach fast zwei Jahren Kampf gegen die Depression, sieht Reinbacher dank einer starken Frau, viel Psychotherapie und einer radikalen Neuausrichtung seiner Werte endlich Licht am Ende des Depressionstunnels. Die Ängste und düsteren Gedanken sind weg. Dass er vor einem Jahr nicht mehr leben wollte, kann er nicht mehr verstehen. „Damals spielten meine Gedanken verrückt“, sagt er. Er verbringt viel Zeit mit seinem Sohn.
Gemeinsam mit seiner Frau hat er „Nach Grau kommt Himmelblau“ geschrieben, um anderen zu helfen. Das Buch erzählt aus der Sicht von Betroffenen und Angehörigen. „Ein, zwei Themen muss ich noch in der Therapie bearbeiten, bevor ich wieder ins Berufsleben einsteige“, sagt er. Ob er wieder in reduziertem Umfang in die Technologiebranche geht oder sich der Aufklärung über Depressionen widmet, lässt er noch offen. Im Herbst startet er eine Vortragsreihe an Universitäten und Fachhochschulen. Das ist ihm wichtig: „Junge Menschen müssen für die mentale Seite der Gesundheit sensibilisiert werden.“
Das Buch
„Nach Grau kommt Himmelblau“ kann unter www.himmelblau.jetzt bestellt werden. Außer dem Buch gibt es auch Therapiekarten zur Bestimmung der eigenen Werte.