Mit Schnecken verbindet der normale Mensch eher weniger schöne Emotionen: Wut, wenn sie im Garten über den Salat herfallen, Ekel beim Anblick ihrer Schleimspur und bestenfalls Heiterkeit angesichts ihrer Langsamkeit. Doch ganz im Gegensatz zu ihrem Ansehen auf der Welt sind die Weichtiere geradezu Wunderwerke der Natur.
Einer, der von den komplexen Lebenszyklen der Schnecken seit Jahrzehnten fasziniert ist, ist Manfred Colling. Das Planungsbüro des Biologen für Gewässerökologie und Weichtierkunde erstellt Gutachten, wenn ein Eingriff in die Natur geplant ist und „seine“ Tiergruppe betroffen ist. Und die ist für den Laien überraschend vielfältig. Allein in Deutschland sind rund 330 Arten von Land- und Süßwassermollusken bekannt. Der weitaus größte Teil mit gut 230 Arten sind Landschnecken, etwa 70 Schneckenarten sind im Süßwasser beheimatet und etwa 30 Arten sind Muscheln; Letztere messen oft nur wenige Millimeter. Beachtlich ist aber eins: „Im Stadtgebiet München leben stattliche 140 Arten, übers Isartal kommen auch alpine Arten, die beispielsweise mit dem Hochwasser verdriftet werden und sich etablieren, wenn das Habitat passt“, erklärt Colling. Und erläutert, dass der Großteil der Schnecken für die wenigsten sichtbar ist, weil sie „unter einem Zentimeter klein sind“. Doch seinem geschulten Blick entgeht nichts und zack – an einem Stängel entdeckt er etwas. „Eine Punktschnecke“, freut er sich. Ein Winzling von gerade mal gut einem Millimeter. Wie kann man so was sehen? Er lacht: „40 Jahre Erfahrung. Meine Familie mag auch gar nicht mehr mit mir spazieren gehen, weil ich dauernd etwas entdecke.“ Wenn er für ein Gutachten beobachtet, legt er sich sogar auf den Boden. Seinen Argusaugen und seinem Enthusiasmus ist es auch zu verdanken, dass er vor Jahren in einem Quellbach im Norden von München eine Schnecke entdeckt hat, die er definitiv noch nie gesehen hatte. Er war überrascht, trat mit Kollegen in Kontakt – nein, diese Schnecke war in Bayern nicht bekannt. Nun heißt sie dank der Neubeschreibung von Hans D. Boeters Bayerische Zwergdeckelschnecke und es gibt sie tatsächlich nur in diesem Quellbereich. „Sie ist nur drei bis vier Millimeter klein, es ist nicht wirklich plausibel, warum sie gerade nur dort ist. Sie ist ein Eiszeit-Relikt. Es gibt im Raum München die Bayerische Quellschnecke und auch die früher so bezeichnete Österreichische Quellschnecke, die jetzt in Bayern aber Kegelige Quellschnecke heißt.“ Der Laie hat solche Tierchen nie gesehen und bemerkt daher auch nicht ihre Gefährdung. Gut die Hälfte der Arten ist bestandsbedroht. Und das bei einer Tiergruppe, die so viele Arten umfasst! Der Klimawandel, vor allem die Trockenheit in den Wäldern setzt ihnen zu. Und Schnecken haben eben nur einen winzigen Radius und keine Ausweichmöglichkeit ins nächste Biotop.
Schnecken sind auch im Anhang II und IV der FFH-Richtlinie gelistet, sechs der in Bayern heimischen Schneckenarten sind als europaweit schützenswert eingestuft, darunter vier landlebende Windelschneckenarten. Colling kommt immer dann ins Spiel, wenn Eingriffe in die Natur geplant sind wie bei Hangbefestigungen im Isartal. In den Nagelfluhfelsen sitzen z. B. die Roggenkornschnecke, die Faltenrandige Schließmundschnecke oder die Berg-Glanzschnecke, die auf der Roten Liste stehen. Colling hat abzuwägen, ob der Bestand gefährdet ist, ob der Eingriff dann überarbeitet werden muss. Wegen ein paar Schecken, die man nicht mal sieht? Ein klares Ja, denn Schnecken überspannen die Zeiten. Mollusken sind echte Ureinwohner, sie lebten schon vor den Eiszeiten und manche nur noch Bayern. Colling stellt klar: „Auch die FFH-Anhangsarten Blanke Windelschnecke und Gebänderte Kahnschnecke kommen hierzulande allein noch in Bayern vor, weswegen der Freistaat die Alleinverantwortung für diese europaweit seltene Art besitzt.“
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