Gefährlicher Tabletten-Mix

von Redaktion

Welche Tabletten nehmen Sie? – Arzneimittel-Report deckt Ärzte-Irrtümer auf

VON DORITA PLANGE

München – Patienten in Deutschland werden häufig Schmerzmittel verordnet, die sich im Nachhinein als ungeeignet und zum Teil sogar gefährlich herausstellen. Diese (vermeidbaren!) Risiken können speziell für herzkranke, vorerkrankte und ältere Menschen dramatisch enden – bishin zu lebensgefährlichen Folgen wie einem Darmverschluss oder der Verschlechterung einer bestehenden Herzinsuffizienz. Auch frei verkäufliche Schmerzmittel wie Diclofenac & Co sind keineswegs harmlos, nur weil es sie ohne Rezept gibt. Das geht aus dem aktuellen Arzneimittelreport 2023 der Krankenkasse Barmer hervor. Zwei Experten bewerten die Ergebnisse:

Der Arzneimittelreport untersucht die medikamentöse Schmerztherapie von ambulant behandelten Barmer–Versicherten ab 18 Jahren ohne Tumorerkrankung. Demnach erhielten hochgerechnet rund 17,1 Millionen gesetzlich Versicherte im Jahr 2021 eine medikamentöse Schmerztherapie.

Gefährliche Irrtümer bei Ibuprofen & Co.

Dabei stellte sich heraus: Rund 526 000 Versicherte bekamen trotz Herzinsuffizienz nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen oder Diclofenac verschrieben. Dabei raten medizinische Leitlinien von dieser Kombination definitiv ab, da auch ein nur kurzer Einsatz dieser Medikamente die Leistung des Herzens deutlich verschlechtern kann. Dadurch können die Zahl der Klinikaufenthalte und das Sterberisiko steigen. „Gerade die Kombi vermeintlich harmloser Schmerzmittel kann fatale Folgen haben. Die meist durch mehrere Ärzte verordnete Therapie ist ohne digitale Unterstützung kaum mehr überschaubar“, warnt Prof. Dr. Christoph Straub, selbst Arzt und Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Jedes Schmerzmittel hat Nebenwirkungen

Straub fordert den verbindlichen Einsatz digitaler Helfer in der Arzneimittel-Versorgung, um den Überblick über die Gesamtmedikation und alle Neben- und Wechselwirkungen zu behalten. Das sei zwingend erforderlich, da es eine nebenwirkungsfreie Schmerzmitteltherapie bislang nicht gebe. Zudem seien Schmerzmittel wie Ibuprofen, Diclofenac und Co. auch rezeptfrei erhältlich.

Schwere Fehler bei Opioid-Therapien

Auch bei den Therapien mit starken Schmerzmitteln geschahen aus Experten-Sicht in drei von zehn Fällen schwerwiegende und vermeidbare Fehler. Davon waren bei der Opioid-Therapie laut Arzneimittelreport tausende Patienten beim Einsatz von Medikamenten betroffen. „Demnach bekamen im Jahr 2021 hochgerechnet rund 2,7 Millionen gesetzlich Versicherte ohne Tumorerkrankung in Deutschland ein Opioid, also ein sehr starkes Schmerzmittel wie Morphinvarianten, verschrieben. Doch drei von zehn Betroffenen erhielten parallel dazu kein Abführmittel, wie es die medizinischen Leitlinien vorsehen. Dadurch verfünffacht sich sogar das Risiko für einen Darmverschluss. Fünf von 10 000 Patienten mit einer sogenannten Opioid-Therapie müssen jedes Jahr wegen dieser Komplikation ins Krankenhaus. Dies wäre vermeidbar, wenn Abführmittel bereits vorsorglich verordnet und eingenommen würden“, sagte Studienautor Prof. Dr. Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken.

Wechselwirkungen mit Beruhigungsmitteln

Beim Einsatz von sehr starken Schmerzmitteln gebe es weitere Risiken. So sollten Opioide nicht zusammen mit Beruhigungsmitteln, sogenannten Tranquilizern, angewendet werden, weil die Gefahr schwerer Nebenwirkungen bis hin zu vermehrten Todesfällen drohe. Dennoch habe rund jeder Zehnte – also 40 100 Barmer-Versicherte – mit einer Opioidverordnung entgegen der Leitlinienempfehlungen zugleich ein Beruhigungsmittel erhalten. Hier würden Patienten vermeidbar gefährdet.

Metamizol birgt große Gefahren für Ältere

Gerade auch den Älteren drohen Gefahren durch riskante Medikamenten-Kombinationen. Den Ergebnissen des Arzneimittelreports zufolge – gestützt auf die Analysen eines interdisziplinären Wissenschaftler-Teams an der Kölner Universität – kommt es auch bei der Verordnung von Metamizol, einem Mittel gegen Schmerzen, Fieber und Koliken, immer wieder zu riskanten Konstellationen.

Im Jahr 2021 wurde rund 959 000 erwachsenen Barmer-Versicherten Metamizol verschrieben. Das Medikament kann in Einzelfällen schwerste Schädigungen der blutbildenden Zellen verursachen. Vervielfacht wird dieses Risiko insbesondere bei den über 80-Jährigen, wenn sie neben Metamizol auch noch ein Medikament zur Behandlung von Entzündungen und Krebs erhalten, nämlich Methotrexat.

Obwohl die gleichzeitige Medikamentenvergabe zumindest für diese Altersgruppe als No-Go gilt, erhielten 1,1 Prozent – also 10 100 der mit Metamizol behandelten Barmer-Versicherten – gleichzeitig beide Präparate. 22,4 Prozent dieser Versicherten waren bereits 80 Jahre. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss: „Das Schmerzmittel Metamizol wird zu unkritisch eingesetzt.“

Warnsystem könnte Tausende Leben retten

Zur Vermeidung der teils lebensgefährlichen Gefahren können Ärzte digitale Unterstützung bekommen. Die Barmer betreibt das Projekt AdAM, das Hausärzte beim Medikamenten-Management unterstützt und direkt warnt vor Risiken und Wechselwirkungen. Der Datentransfer erfolgt über ein von der Barmer beauftragtes Rechenzentrum über das geschützte Portal einer Kassenärztlichen Vereinigung.

Zielgruppe sind erwachsene Patienten, die mehr als sechs Monate lang mindestens fünf Medikamente einnehmen. „Eine wirksame Hilfe“, meint Prof. Grandt. Wenn dieses System in die Regelversorgung komme, dann könne AdAM jedes Jahr bis zu 70 000 Menschen das Leben retten.

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