1914 bis 1989 – das sind 75 Jahre, nicht einmal eine Lebensspanne. Doch niemals zuvor haben die Deutschen häufiger in den Abgrund geblickt und einen Neuanfang gewagt wie in dieser überschaubaren Zeit. Zwei Weltkriege, zwei Wiederaufbauphasen, Diktatur, Teilung und Wiedervereinigung – und mittendrin Menschen, die hin- und hergeworfen worden sind zwischen den Extremen. Eine Ära, die unsere (Ur-)Großeltern geprägt und nicht selten Traumata in den Familien hinterlassen hat. Verluste im Weltkrieg, Vertreibung und Ermordung, Schuld und Sühne sowie Trennung und Entfremdung durch den Eisernen Vorhang: Stoff genug für Psychologen und Autoren, die die vielfältigen Verletzungen aufarbeiten und damit auch der Nachwelt einen Einblick in die gequälten Seelen der oft schweigsamen (Nach-)Kriegsgeneration ermöglichen.
Eine derart bewegende Geschichte erzählt die Münchner Verlegerin Elisabeth Sandmann in ihrem Roman, der – auch geografisch einen Bogen zwischen West und Ost spannend – die Verwerfungen aufzeigt, die eine Familie in diesen dramatischen Jahren erdulden musste.
Nachdem die Mauer gefallen ist, beschließt die Tante der jungen Londonerin Gwen, auf die Suche nach ihren Wurzeln auf einem Gutshof in Polen zu gehen. Nur wenig hatte sich Gwen bis dahin mit ihrer Familie beschäftigt, ihre psychisch labile Mutter war früh gestorben und der Kontakt zu den Großeltern, Onkeln und Tanten eher sporadisch und oberflächlich. Warum nun also das Interesse ihrer Tante an den alten Geschichten? Und wieso will die alte Dame sie unbedingt dabeihaben? Als sie dann aber im Haus ihres Vaters auf eine Art Tagebuch der Ziehmutter ihrer Mutter stößt, ist sie sofort gebannt von Ellas Erzählungen, die aber teils lücken- und mehr noch rätselhaft sind. Gwen reist mit ihrer Tante nach Polen, taucht ein in die Vergangenheit ihrer Familie und stößt zwischen Bad Tölz, Schloss Elmau und Köslin auf zahlreiche Widersprüche und dunkle Geheimnisse. In deren Mittelpunkt steht ihre glamouröse Großmutter Ilsabé, die – 94-jährig – nun endlich bereit für überraschende Wahrheiten zu sein scheint.
Eine großartige, klug gesponnene Geschichte, die, auch sprachlich angepasst, eine Epoche lebendig werden lässt, von Liebe und Leiden erzählt und von später und heilsamer Versöhnung.