von Redaktion

VON NICOLA FÖRG

Gesunde Wälder sind als Kohlenstoffspeicher ein Element in der Lösung der Klimakrise. In den Alpen haben Bäume, die zudem wichtige Sauerstoff-Lieferanten sind, eine spezielle Rolle – auch für die Tierwelt. Daher umarmt Rupert Seidl die Stämme gerne – nicht weil er esoterisch angehaucht wäre, sondern weil er ihnen ein Maßband umlegen will. Wer in der Früh mit ihm über den Königssee nach St. Bartholomä schippert, tut dies deshalb auch im Dienst der Wissenschaft. Das Freiluftlabor des Professors an der TU München, er hat einen „Lehrstuhl für Ökosystemdynamik und Waldmanagement in Gebirgslandschaften“ inne, ist der Nationalpark Berchtesgaden.

Die Versuchsflächen liegen auf allen Höhenstufen, in St. Bartholomä ist der tiefste und wärmste Punkt. Historisch war das Gebiet eng mit der Salzgewinnung verbunden, man brauchte viel Holz, es wurde aufgeforstet und geschlagen. „1978 wurde der Nationalpark gegründet, ein Jahr älter als ich“, lacht Seidl. Heute ist er unterwegs, um Messgeräte zu installieren. Darunter sind solche für Bodenfeuchte und Temperatur, aber auch sog. Dendrometer – sie können „tagesscharf aufzeichnen, dass sich Bäume verändern. Erst seit Kurzem haben wir so feine Daten.“

Schon seit Mitte der 1980er-Jahre wurden wiederholt mehr als 130 000 Bäume auf knapp 4000 Untersuchungsflächen beobachtet. Der Nationalpark hat in den vergangenen Jahrzehnten schon geholfen, die Veränderungen des Bergwaldes zu verstehen. Denn auch wenn die Wachstumsperioden im Gebirge kurz sind, zeigte sich, dass sich der Wandel im Wald beschleunigt. Und diese Beschleunigung wird sich auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiter fortsetzen. Fragt sich nur wie!

Dazu hat die TU München 22 verschiedene zukünftige Klimaszenarien in einem Computermodell simuliert. „Wir gehen davon aus, dass sich bis Mitte des Jahrhunderts der Trend zu dichteren und komplexeren Wäldern im Nationalpark verstärkt. Danach laufen die Szenarien aber auseinander. Bei nur moderater Erwärmung von weniger als zwei Grad werden wohl der Nadelholzanteil und die Baumartendiversität ein dynamisches Gleichgewicht erreichen. Bei vier oder fünf Grad würde die Population der Borkenkäfer explodieren, es wird auch bei uns im Gebirge ein massives Fichtensterben geben.“ Doch die Fichte „ist ein Gebirgsbaum und gehört in die subalpine Höhenlage. Wir müssen uns fragen, in welchem Kontext wir solche Veränderungen sehen. Im Wirtschaftswald ist der Borkenkäfer schädlich, im Naturwald lediglich ein Protagonist, der Flächen frei legt.“ Und das ist erst mal ganz wertneutral gemeint!

„Das Gebirge steht vor großen Veränderungen. Gletscher werden mehrheitlich verschwinden, zusätzlich wird die abnehmende Kältelimitierung dazu führen, dass die Wälder bunter werden und die natürliche Dominanz des Nadelholzes auch im Bergwald zurückgeht.“ Davon wird also die Artenvielfalt im Wald profitieren, auch wenn spezialisierte Arten der höheren Lagen zu den Verlieren zählen werden.

Klingt doch gut, oder? Nur bringt diese neue Diversität Einbußen im Lawinenschutz. „Ein immergrüner Nadelbaum ist der beste Schutz vor Lawinen. Der Schnee wird schon in den Kronen abgefangen, im Wald trifft weniger Schnee auf den Boden. Auch abgesägte Stümpfe oder querliegendes Holz aus einem Windwurf haben noch eine Schutzfunktion, die Bäume wirken im Schnee wie eine Armierung im Stahlbeton. Sommergrüne Bäume nutzen da eben weit weniger.“

Das Einzigartige am Nationalpark ist eben, dass dort natürliche Prozesse ohne menschliche Eingriffe ablaufen. Und dort haben auch Lawinen etwas Gutes, sie schaffen neue offene Lebensräume, sie helfen gerade auch wechselwarmen Tieren, die Besonnung brauchen. Der Wald strebt von sich aus eine gesunde Diversität an. Ebenso wichtig ist die Resilienz. Auch das kann der Wald. „Es gibt eine Störung, aber danach kommen Strukturen und die Leistungsbereitschaft des Waldes zurück. Gesamtgesellschaftlich ist es zwar Konsens, das Klima zu retten und die Artenvielfalt zu bewahren, doch der Wald kann dafür nicht allein zuständig sein, wohl aber einen Beitrag leisten.“

Doch wie muss der Bergwald der Zukunft nun ausschauen? Ein Patentrezept gibt es laut Seidl nicht. Doch im Nationalpark könnten „wir verstehen lernen, was in der Natur vor sich geht. Und daraus lässt sich eben auch für den Wirtschaftswald lernen. Derartige Schutzgebiete sind bedeutsam, weil dort die Effekte des Klimawandels nicht durch menschliche Nutzung überlagert werden.“

Zurück zum Maßband. Ganze sieben Millimeter ist der Stamm heuer dicker geworden. „Der Sommer war wieder zu warm, aber nicht ganz so extrem wie in den Jahren zuvor“, resümiert Seidl. „2003 und 2018 waren Extremsommer, wodurch in ganz Europa das Baumsterben stark zugenommen hattte. Und um die Auswirkungen von solchen klimatischen Extremen zu verstehen, ist der Nationalpark Berchtesgaden das ideale Freiluftlabor.“

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