Das Tierheim platzt aus allen Nähten

von Redaktion

Immer mehr schwierige Hunde sowie alte und kranke Katzen bringen das Münchner Team ans Limit.

VON SUSANNE STOCKMANN

München – Für Turco ist heute ein aufregender Morgen: Er ist einer von 110 Hunden im Münchner Tierheim und am längsten von allen da! Der dunkle, elf Jahre alte Mischling wird früher als sonst aus seinem Zimmer im Hundehaus 2 geholt. Für die Leiterin des Tierheimes, Dr. Eva-Maria Natzer (51), lässt sich an seinem Beispiel zeigen, was schieflaufen kann.

Jeder der rund 1000 Plätze für Hunde, Katzen, Kleintiere und Vögel ist besetzt, die Wartelisten für alle Arten von Haustieren sind lang – es ist keine Überraschung: Das Münchner Tierheim platzt aus allen Nähten. Allerdings sei dies keine Folge mehr des Haustierbooms von Corona. Bei einem Besuch erklärt Eva Natzer dem Merkur-Team die aktuellen Gründe, die Tierheime an die Grenzen bringen, und hat Tipps, wie jeder die Tiere unterstützen kann.

Turco ist ein hübscher, intelligenter Hund, dennoch seit acht Jahren nicht zu vermitteln. Er ist einer von immer mehr Hunden im Riemer Tierheim, die viel Erziehungsarbeit und Aufmerksamkeit brauchen. Das kostet nicht nur Zeit, sondern ist sehr teuer: „Umso mehr schwierige Hunde lange im Tierheim sitzen, desto weniger können neu aufgenommen werden“, so die einfache Rechnung von Eva Natzer.

Seit zwei Jahren leitet die Biologin das Heim, in dem sich 90 Mitarbeiter um die abgegebenen oder gefundenen Schützlinge kümmern. Alle eint das Ziel, den Tieren ein wirkliches Zuhause auf Zeit zu geben. Jedes in seiner Eigenart anzunehmen und ihm zu einer besseren Zukunft zu verhelfen. 7000 hilfsbedürftige Tiere wurden letztes Jahr versorgt. An die 4000 Tiere, vom Meerschweinchen, über den Wellensittich bis zum Hund, werden jedes Jahr neu vermittelt oder zu ihren Haltern zurückgebracht!

Eva Natzer bekommt von Turcos Pflegerin Leckerli in die Hand gedrückt und schon geht es los in den eingezäunten Auslauf auf dem sechs Hektar großen Areal. Dort ist auch Leopold, der vor drei Wochen abgegeben wurde. Der freundliche Schäferhund ist zwar gechipt, aber der Besitzer ist nicht zu ermitteln.

„Turco wurde von einem Urlauber in der Türkei auf einer Müllkippe entdeckt“, so Natzer. Der Mensch wollte den Hund aus einer prekären Situation retten, doch der Überlebenskampf auf der Straße hat Turco füs Leben geprägt: Was er für sich reklamiert, sei es einen Futternapf, seinen Schlafplatz oder einen Sonnenfleck auf der Straße, verteidigt er vehement. Das macht das Zusammenleben schwierig. Wäre er auf der Müllkippe glücklicher geworden? Wer weiß. Immerhin gibt es einige Menschen, die regelmäßig mit ihm Gassi gehen. Rund 100 der 1500 registrierten ehrenamtlichen Gassigeher kommen regelmäßig und schenken den Hunden ein oder zwei Stunden lang ihre volle Aufmerksamkeit.

„Vom Maulkorb sollten sich Menschen nicht abschrecken lassen“, bittet Natzer: Das schützt nicht nur die Umgebung, sondern auch den Hund: „Mit ein bisschen Gewöhnung fühlt es sich für ihn nicht anders an als das Brilletragen beim Menschen.“

70 Prozent der Hunde im Münchner Tierheim tragen einen Maulkorb – in irgendeiner Weise sind diese Hunde schwierig, haben oft schon einmal zugebissen. Nicht selten eine Folge mangelnder Erziehung. Eva Natzer wünscht sich, dass jeder neue Hundebesitzer eine Hundeschule absolviert: „Viele Hunde kennen die Kommandos Sitz, Platz und Fuß.“ Aber nicht mehr: Die Tiere ziehen an der Leine, sind nicht geübt im Umgang mit anderen Hunden: „Viele verhalten sich im Alltag nicht kompetent“, so Natzer und übergibt Turco einer Pflegerin.

In das Katzenhaus mit seinen bunten Fenstern darf der Hund nicht hinein. In den gemütlich eingerichteten Zimmern haben 150 bis 170 Tiere Platz. Bei Katzen sind es die alten, kranken Tiere, die lange auf ein neues Zuhause warten: „Die hohen Tierarztkosten können sich viele nicht mehr leisten“, so Natzer: „Das merken wir hier sehr.“ Der hübsche und kerngesunde Domino ist vermutlich nur ein kurzer Gast. Noch sitzt er mit 52 anderen Stubentigern in der Quarantänestation. Der etwa zwei Jahre alte Kater wurde kürzlich in einem Transportkorb an einem Wertstoffhof gefunden. „Das Aussetzen nimmt zu“, bestätigt Eva Natzer. Das macht die Arbeit im Tierheim schwieriger und langwieriger: „Wenn ein Tier abgegeben wird, erkundigen wir uns nach dem Charakter, den Vorlieben, wir checken Impfungen, erfragen Krankheiten.“ Um eine Katze zu vermitteln, muss all dies bekannt sein.

Lebensumstände ändern sich oft kurzfristig: Jemand verliert seinen Job, seine Wohnung, wird krank oder das Kind reagiert allergisch – alles Fälle, in denen das Tierheim die Sorge für das tierische Familienmitglied übernimmt: „Wir versuchen, die Wartelisten so schnell wie möglich abzuarbeiten“, verspricht Natzer, mit einer Wartezeit von vier bis acht Wochen müsse aktuell gerechnet werden. Die Abgabegebühr von rund 120 Euro deckt dabei nur einen Bruchteil der Kosten.

Am Ende des Rundgangs zeigt Eva Natzer auf Turco, der brav an der Leine über die Straße geht, unterwegs zum täglichen Spaziergang mit seiner Gassi-Geherin: „Im Alter wird Turco ruhiger, vielleicht findet er als Senior sein Für-immer-Zuhause.“

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