Erfolgreiche Medizin-Detektive: Der Arzt Prof. Martin Mücke und die Schauspielerin Esther Schweins. © Jennifer Fey/Ullstein
Was ist denn nur los mit mir? Patienten mit seltenen Erkrankungen müssen oft Jahre auf eine gesicherte Diagnose warten. Eine extrem belastende Situation, die sie selbst und die Angehörigen viel Kraft kostet. © Mauritius Images
Er ist darauf spezialisiert, die kompliziertesten Fälle zu lösen. Manchmal dauert es Jahre, bis die Patienten zu Professor Martin Mücke in die Uniklinik Aachen kommen und eine Diagnose erhalten. Denn sie leiden an seltenen Erkrankungen. Vier Millionen Menschen sind in Deutschland betroffen. Mit der Schauspielerin Esther Schweins hat Prof. Martin Mücke nun das Buch „Unglaublich krank – seltene Krankheiten und was sie über unseren Körper verraten“ (siehe unten rechts) veröffentlicht. Ein Gespräch über die Detektivarbeit in der Medizin und berührende Schicksale.
Herr Prof. Mücke, wie fanden Sie Ihr Fachgebiet?
Mücke: Vor zwölf Jahren wurde in Bonn ein Zentrum mit einer Anlaufstelle für Patienten mit Erkrankungen ohne Diagnose gegründet. Eine Kollegin fragte mich, ob ich die Ambulanz leiten möchte. So bin ich im Fachgebiet Seltene Erkrankungen hängen geblieben.
Wenn Sie nicht Arzt geworden wären, dann vielleicht doch Kriminalpolizist?
Mücke: Wie alle Kinder wollte ich auch mal Polizist oder Feuerwehrmann werden. Für die Allgemeinmedizin habe ich mich entschieden, weil man in diesem Fachgebiet so viele unterschiedliche Sachen machen kann. Im Bereich der seltenen Erkrankungen haben wir auch mehr Zeit. Der Hausarzt kann im Schnitt siebeneinhalb Minuten pro Patient aufbringen. Im „Zentrum für Seltene Erkrankungen“ haben wir eineinhalb bis zwei Stunden Zeit für die Erstanamnese.
Ihre Patienten sind nach Jahren ohne Diagnose oft verzweifelt. Wie schnell bekommt man bei Ihnen einen Termin?
Mücke: Die Wartezeiten variieren zwischen einigen Wochen und mehreren Monaten. Auch bei uns ist die personelle und finanzielle Ausstattung begrenzt. Und wir sind keine Akut-Anlaufstelle. Patienten melden sich über ein Kontaktformular oder in der Telefonsprechstunde. Dann gibt es einen Fragebogen und ein Vorscreening. Ist der Patient bei uns richtig, fordern wir weitere Unterlagen an und dann fängt das Puzzlespiel an. Oft gibt es bereits zahlreiche MRTs und Blutbilder. Im Team überlegen wir, welche diagnostischen Schritte fehlen und was ergänzt werden muss. Manchmal reicht ein spezieller Blutwert aus, der uns auf neue Wege und schließlich zur Diagnose führt. Aber oft sitzen Experten verschiedener Fachgebiete zusammen oder vernetzen sich, um zum Ergebnis zu kommen.
Seit vier Jahren machen Sie mit Esther Schweins den Podcast „Unglaublich krank“. Wie kam es dazu?
Schweins: Wir haben einen gemeinsamen Freund, Daniel von Rosenberg. Er hatte die Idee und hat uns vernetzt. Inzwischen sind 60 Podcast-Folgen und das Buch entstanden.
Wie wichtig ist der Input der Nichtmedizinerin Esther Schweins?
Mücke:Wir haben ganz unterschiedliche Sichtweisen und Esther stellt ganz andere Fragen. Durch die unterschiedlichen Betrachtungen entsteht ein spannender Dialog.
Schweins: Wir lernen voneinander. Für mich ist es fast wie ein Zweitstudium. Aber unser Thema ist doch sehr ernsthaft. Und nicht immer gehen die Geschichten gut aus. Sterben wird im Buch thematisiert. Wir beschäftigen uns auch mit ungelösten Fällen. Aber der Schwerpunkt liegt bei Fällen, bei denen es eine Lösung gibt.
Mücke: Da haben sich Patienten sogar in unserem Podcast wiedergefunden. Wir haben mindestens zwei Fälle, die über die Beschreibungen dort und den Wiedererkennungswert der Symptome eine Diagnose bekommen konnten.
Wie wichtig ist die Künstliche Intelligenz?
Mücke: Die Bilderkennungsmöglichkeiten mithilfe von KI werden immer wichtiger. Einige Erkrankungen sind direkt erkennbar, z. B. durch Veränderungen im Gesicht oder am Körper. Die Bildpunktanalyse kann Rückschlüsse zum dahinterliegenden Gen ziehen. Die KI kann hier anhand der Antworten z. B. Hinweise geben, in welchen Bereich der seltenen Erkrankungen diese Symptome passen könnten.
Ein konkreter Fall?
Mücke: Eine Kollegin war elf Jahre lang auf der Suche nach einer Diagnose für ihr krankes Kind. Wir haben ein Kinderfoto ihrer Tochter eingescannt. Anhand der Veränderungen hat die KI innerhalb von zehn Sekunden eine Diagnose ausgespuckt, die auch nach intensiver Überprüfung Bestand hatte. Natürlich klärt die KI nicht alle Fälle, aber sie ist ein wertvolles unterstützendes Instrument.
Was sind die Gründe seltener Krankheiten?
Mücke: 70 bis 80 Prozent der Krankheiten sind genetisch bedingt, der Rest sind seltene Vergiftungen und Infektionskrankheiten z. B. durch Parasiten. Dengue-Fieber oder Malaria gehören in Deutschland per Definition auch zu den seltenen Erkrankungen, weil weniger als fünf von 10 000 Menschen davon betroffen sind. Bekannte Beispiele für seltene Erkrankungen sind Lupus (eine Autoimmunkrankheit) oder ALS (Amyotrophe Lateralsklerose). Sie wurde 2014 durch die Ice Bucket Challenge bekannt. ALS-Patienten haben damals gesunden Menschen Eiswasser über den Kopf geschüttet und damit für einen Moment das Lähmungsgefühl erzeugt, das ALS-Patienten ein Leben lang haben.
Ist Ihre Detektivarbeit immer erfolgreich?
Mücke: Leider nein. Aber wir geben nicht auf. Es gibt wie in der Kriminalistik immer wieder neue Methoden und Techniken. Da wird die KI sicher auch in Zukunft einen entscheidenden Beitrag leisten. Von 100 Fällen, die bei uns landen, gehören weniger als zehn in den Bereich der seltenen Erkrankungen. Nicht alle unerkannten Krankheiten sind auch selten.
Wie lange dauert es im Schnitt bis zur Diagnose und was bedeutet das für die Patienten?
Mücke: Die Zeiträume umfassen wenige Tagen bis hin zu vielen Jahren. Ein erwachsener Patient ohne Diagnose sucht im Durchschnitt ca. 7,5 Jahre nach einer treffenden Diagnose. Ich kenne Patienten, die erst nach 30 Jahren eine Diagnose bekamen. Damit ist ihr Problem aber noch nicht gelöst. Nur für etwa fünf Prozent der Diagnosen gibt es auch Therapiemöglichkeiten. Es gibt aber immer Heilmittel und Behandlungen, die die Krankenkasse ohne Diagnose nicht erstatten würde.
Gibt es einen Fall, der Sie besonders berührt hat?
Schweins: Ich hatte selbst vor Jahren eine Campylobacter-Infektion und war lange sehr krank. Jahre später lernte ich die Frau eines Kameramanns kennen. Sie saß im Rollstuhl. Wir stellten fest, dass wir im selben Jahr auf Sardinien auf dem selben Berg verseuchte Wasserlieferungen erhalten hatten. Vier Jahre lang lebte die Frau ohne dieses Wissen. So konnte sich das Bakterium in ihrem Körper ausbreiten.
Mücke: Genau diese Geschichte half mir auch bei einer anderen Patientin, die ebenfalls im Rollstuhl saß. Wir hatten eigentlich gar nicht vor, sie auf dieses spezielle Bakterium zu testen, haben es aber dann doch getan. Und es war ein Treffer.
Frau Schweins, bitten Patienten auch Sie manchmal um Rat?
Schweins: Es kommen oft Fragen aus dem direkten und erweiterten Umfeld. Da kann ich dann die richtigen Ansprechpartner und Zentren nennen und oft auch ein paar Tipps zur gesunden Ernährung und Bewegung geben. Mein Rat ist jedoch ganz simpel: Tut das Gesündeste für Euch, was Ihr tun könnt!