Das Kreuz mit den falschen Rücken-Diagnosen

von Redaktion

Bei der Diagnose von Wirbelsäulenerkrankungen kommt es nicht nur auf die Bilder aus CT und MRT an, sondern auch auf eine gründliche klinische Untersuchung. © Foto: Panther Media

München – Mindestens jeden zweiten Erwachsenen erwischt‘s einmal im Jahr, aber Millionen Betroffene bleiben nach dem Besuch diverser Arztpraxen ratlos zurück: Bei kaum einem Volksleiden ist die Verunsicherung der Patienten so groß wie bei Rückenleiden. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen gibt es kaum ein medizinisches Fachgebiet, in dem die Therapie-Empfehlungen der Ärzte bei derselben Diagnose so unterschiedlich ausfallen wie in der Wirbelsäulenmedizin. Zum anderen wird der Experten-Streit um die beste Behandlungsmöglichkeit mitunter fast schon feindselig öffentlich ausgetragen – und zwar leider auf dem Rücken der Patienten. Das Paradebeispiel ist die Frage, ob eine OP sinnvoll ist oder nicht.

Einerseits gilt es in Fachkreisen als unstrittig, dass Wirbelsäulenpatienten in Deutschland viel zu oft viel zu schnell auf dem OP-Tisch landen. So kommt beispielsweise ein Expertengremium der Techniker Krankenkasse zu dem Schluss, dass angeblich 87 Prozent der Eingriffe überflüssig seien, weil sich mit konservativen Therapien ähnliche Ergebnisse erzielen ließen. Manche Ärzte gehen sogar von einem noch höheren Prozentwert aus. Andererseits ist es Fakt, dass eine OP in manchen Fällen sinnvoll oder sogar zwingend erforderlich sein kann – bei starken neurologischen Ausfällen etwa oder dann, wenn starke Schmerzen auch nach monatelanger konservativer Therapie nicht nachlassen.

Bei einem Bandscheibenvorfall kann es beispielsweise in seltenen Fällen vorkommen, dass Nerven so stark in Mitleidenschaft gezogen werden, dass die Steuerung von Blase oder Darm nicht mehr funktioniert. Dann ist es höchste Zeit, das ausgetretene Bandscheibengewebe in einem Eingriff zu entfernen und die bedrängte Nervenwurzel zu entlasten – Mediziner sprechen von einer Notfallindikation. Ähnlich gefährlich: wenn nach einem Bandscheibenvorfall urplötzlich die Kraft, aber auch die Schmerzen in Bein oder Arm komplett verschwinden. Das könnte auf einen sogenannten Nervenwurzeltod hindeuten – mit der Folge, dass der Nerv dauerhaft gelähmt bleibt und der damit verbundene Muskel nicht mehr funktioniert.

Doch in den allermeisten Fällen sind Symptome nicht so eindeutig und Diagnosen so gefährlich. Medizinische Laien fühlen sich oft damit überfordert, die Therapieempfehlung ihres Arztes zu beurteilen. In solchen Fällen empfiehlt es sich, einen weiteren Spezialisten zu Rate zu ziehen. „Es ist sicher nicht bei jedem Zipperlein nötig, sich eine Zweitmeinung einzuholen, aber manchmal sprechen gute Gründe und auch das eigene gesunde Bauchgefühl dafür“, analysiert der erfahrene Münchner Wirbelsäulen-Spezialist Dr. Reinhard Schneiderhan. „Ein solides Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und dem Arzt ist die Basis für eine erfolgreiche Behandlung. Wenn man bereits an der gestellten Diagnose zweifelt, dann sollte man diese lieber noch mal woanders überprüfen lassen. Man sollte auch die Gelegenheit haben, kritisch nachzufragen und plausible Antworten zu bekommen – vor allem dann, wenn es um eine OP-Empfehlung geht.“

Der Hintergrund: In Deutschland greifen Wirbelsäulen-Chirurgen dreimal so häufig zum Skalpell wie in Frankreich oder England. „Das kann an wirtschaftlichen Interessen liegen, weil Operationen viel Geld bringen. Aber es kann auch an den Patienten selbst liegen, weil sie sich von dem Eingriff eine schnellere Genesung erhoffen, so bald wie möglich wieder arbeiten oder Sport treiben möchten“, erläutert Schneiderhan. „Deshalb ist es entscheidend, jedem Patienten ehrlich auch die Risiken der geplanten Behandlung zu erklären und mögliche Alternativen aufzuzeigen.“ In der modernen Wirbelsäulenmedizin gibt es eine Fülle von Behandlungsoptionen. Sie reicht von einer Schmerztherapie mit entzündungshemmenden Medikamenten über Injektionen, Infiltrationen unter Röntgenkontrolle und minimalinvasiven Katheterbehandlungen bis zu endoskopischen (Schlüsselloch-)Eingriffen.

Warum aber werden trotzdem so viele Rückenpatienten operiert, die gar nicht unterm Messer landen müssten? „Ein Schlüssel liegt in der Diagnostik“, weiß Schneiderhan und nennt ein Beispiel: „Viele Operationen kommen durch die falsche Interpretation der Aufnahmen aus Magnetresonanztomografie (MRT) oder Computertomografie (CT) zustande. Mit dem Alter weist fast jede Wirbelsäule Verschleißerscheinungen auf. Aber oft sind diese degenerativen Veränderungen, die man auf den Bildern sieht, gar nicht der Auslöser der Beschwerden. Deshalb wäre es fatal, sich bei der Diagnostik nur auf bildgebende Verfahren zu verlassen.“ Stattdessen sei zusätzlich eine gründliche körperliche Untersuchung und eine ausführliche Befragung über die Schmerzentstehung wichtig. Auch müsse man gerade bei Rückenschmerzen auch psychosomatische Ursachen in Betracht ziehen, ein Zusammenhang sei in mehreren Studien nachgewiesen, so Schneiderhan. „Nur durch die Zusammenschau der verschiedenen Informationen erhält man ein klares Bild und kann einen genauen Befund stellen.“

Übrigens: Im Zweifel gibt es keinen Grund, den Wunsch nach einer Zweitmeinung zu verheimlichen. „Ein seriöser Mediziner hat damit kein Problem“, sagt Schneiderhan und zieht einen Vergleich zur Lebenswirklichkeit vieler Patienten: „Wenn man eine große Investition tätigt, dann holt man sich ja auch oft ein zweites Angebot ein. Warum sollte das bei einer großen Investition in die kostbare eigene Gesundheit nicht möglich sein.“ Die Krankenkassen sehen es genauso. Mit wenigen Ausnahmen übernehmen sie die Kosten für eine Zweitmeinung.

Bleibt die Frage nach der richtigen Adresse. Schneiderhan rät zu einem Besuch in einer interdisziplinären Praxis oder Klinik, die auf Wirbelsäulenerkrankungen spezialisiert ist. Eine solche leitet er selbst – und zwar aus gutem Grund: „Darin arbeiten Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen eng zusammen, unter anderem Orthopäden, Schmerztherapeuten, Neurologen, Neurochirurgen, Radiologen, Allgemeinmediziner, Ärzte für physikalische und rehabilitative Medizin. Durch diese hochspezialisierte, aber ganzheitliche Betrachtung aus allen Blickwinkeln ist die Chance auf die richtige Diagnose und eine Erfolg versprechende Therapie am größten.“

Artikel 4 von 4