Michaels Gleitschirmflug zurück ins Leben

von Redaktion

Schwierige Operation: Der Knochen in Michael Wilhelms Bein wurde mit einem langen Nagel und diversen Schrauben stabilisiert.

Verschobener Bruch: Um die Knochenfragmente in Position zu halten, legten die Ärzte zunächst ein Gestänge von außen an. Der Fachbegriff lautet Fixateur externe.

Flug zurück ins Leben: Michael Wilhelm war erstmals nach seinem schweren Unfall wieder mit dem Gleitschirm unterwegs.

Glücklich über die erfolgreiche Behandlung im Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie des Klinikums Ingolstadt: Patient Michael Wilhelm (Mitte) mit Dr. Jörg Scherer (links) und Professor Hans-Georg Palm (rechts). © Fotos: Klinikum Ingolstadt, privat

Schwere Verletzungen: Dieses Röntgenbild entstand kurz nach Michael Wilhelms Einlieferung ins Klinikum Ingolstadt. Man sieht darauf unter anderem, dass der rechte Oberschenkel mehrfach gebrochen und der linke Hüftkopf aus der Hüftpfanne gerissen ist. © Foto: Klinikum Ingolstadt

Ingolstadt – Er weiß selbst nicht mehr so genau, wie viele Knochen in seinem Körper gebrochen waren, aber eins steht fest: Sein Optimismus ist unzerstörbar. „Ich glaube fest daran, dass alles im Leben für etwas gut ist – egal, was einem passiert.“ Auch elf Operationen und 112 Tage im Krankenhaus, davon fast vier Wochen auf der Intensivstation, konnten Michael Wilhelms Grundüberzeugung nicht erschüttern. „Natürlich hadert man ab und zu mit seinem Schicksal, man hat emotional Höhen und Tiefen, stellt sich Fragen: Warum ist mir das passiert? Wieso findet man den Täter nicht? Aber ich hatte nie Rachegefühle. Für mich war immer entscheidend, dass ich wieder einigermaßen gesund werde, mit meiner Familie den Alltag erleben und mit meinem Sohn spielen kann.“ Seine Frau Alexandra und ihr Sonnenschein Ferdinand (6) haben einfach mehr Raum in Wilhelms Gedanken verdient als der Hass auf den Unfallfahrer. Er konnte bis heute nicht ermittelt werden.

Auf der Brass-Wiesn von Auto überrollt

Das Drama geschah am 5. August 2022 am Rande der bekannten Brass-Wiesn in Eching (Landkreis Freising). Rückblende: Wilhelm ist auf einer Wiese unterwegs zu seinem Zelt. Plötzlich wird er von einem Auto überrollt, es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen BMW-Geländewage (SUV). „Dem Verletzungsmuster nach zu urteilen muss er Herrn Wilhelm vom hinten gerammt, auf den Bauch geschleudert und dann überrollt haben“, berichtet Dr. Jörg Scherer, stellvertretender Direktor des Zentrums für Orthopädie und Unfallchirurgie im Klinikum Ingolstadt. Am Brustkorb und Becken ihres Patienten fanden die Ärzte sogar noch Reifenabdrücke.

Über eine halbe Stunde muss Wilhelm schwerst verletzt auf der Wiese gelegen haben, bevor ihn Passanten entdecken und die Rettungskräfte alarmieren. Weil sie in ganz München keine aufnahmebereite Klinik finden, transportieren die Retter den jungen Mann von Eching nach Ingolstadt. „Im Nachhinein betrachtet war das ein Glücksfall für mich, weil ich dort hochprofessionell und wirklich warmherzig betreut wurde.“

Dass Wilhelm überhaupt wieder laufen kann, erscheint für Laien angesichts der Schwere und Vielschichtigkeit seiner Verletzungen fast wie ein Wunder. Ein Auszug aus der langen Liste der Diagnosen: Der rechte Oberschenkel ähnelte einem Trümmerhaufen. Das linke Hüftgelenk war ausgerenkt, die komplette Adduktorenmuskulatur gerissen. Der Hüftkopf stand aus dem Körper heraus und lag in der Erde. Die große Wunde blutete stark und wirkte wie ein sperrangelweit offenes Einfallstor für eine Verunreinigung durch Keime aller Art. Dazu kamen sechs Rippenbrüche, Frakturen im Bereich der Wirbelsäule und der Schulter, eine ausgerenkte Kniescheibe (Patellaluxation) samt gerissenem Halteband (MPFL) und Knorpelschaden unter der Kniescheibe. Der rechte Lungenflügel war kollabiert und eingeblutet (Pneumothorax). Der Ischiasnerv wies Teilrisse auf, sodass Wilhelm die Muskulatur im Bein zunächst nicht mehr richtig ansteuern konnte. Er hatte eine Fußheberschwäche – ein Symptom, das zahlreiche Patienten nach schweren Bandscheibenvorfällen kennen. Dabei hatte Wilhelm sogar noch Glück im Unglück. Bei der schweren Hüftverletzung hätte leicht die Oberschenkelarterie reißen können. Dann wäre er mit einiger Wahrscheinlichkeit noch am Unfallort verblutet.

Die Ingolstädter Ärzte mussten ihr gesamtes Know-how abrufen, um ihren Patienten gemeinsam wieder auf die Beine zu bringen. „Dabei war die interdisziplinäre Vernetzung unter einem Dach entscheidend. Nach dem Notfallmanagement im Schockraum konnten wir unter anderem auch mit unseren Spezialisten für Endoprothetik, für septische Chirurgie und für Frührehabilitation helfen“, berichtet Professor Hans-Georg Palm, der das Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie im Klinikum Ingolstadt leitet. Im ersten Schritt mussten die Experten den Patienten stabilisieren und die Wunden immer wieder spülen, um schwere Infektionen zu vermeiden. Allein in den ersten drei Wochen nach dem Unfall kam Wilhelm sieben Mal unters Messer.

Oberschenkel mehrfach gespalten

Besonders anspruchsvoll war der Eingriff, um aus den Trümmerteilen des Oberschenkels wieder einen funktionsfähigen Knochen zu formen. „Er war mehrfach längs und quer gespalten. Wir haben die Knochenfragmente mit Hilfe von Drahtschlingen wie bei einem Puzzle zusammengefügt und mit einem Spezialnagel stabilisiert“, berichtet sein Operateur Scherer. In der Folgezeit benötigte Wilhelm unter anderem auch ein künstliches Hüftgelenk – eine Folge der Ausrenkung, die schwere Arthrose verursacht hatte.

Besonders bitter: Als der große Kämpfer gerade wieder auf die Beine zu kommen schien, warf ihn eine Komplikation zurück. Keime waren in den Körper gelangt – möglicherweise durch eine offene Stelle an der Ferse. Die Wunde musste über Wochen mit einer Vakuumpumpe behandelt werden. Sie erzeugt Unterdruck und soll dabei helfen, dass die Wunde heilt.

Trotzdem gelangten über die Blutbahn Bakterien auch ins rechte Bein und hefteten sich dort an den langen Marknagel aus Metall, der den reparierten Oberschenkelknochen stabilisiert hatte. Also musste Wilhelm wieder unters Messer und der Nagel entfernt werden – glücklicherweise erst zu einem Zeitpunkt, als die Brüche bereits verheilt waren. „Es hatten sich Abszesse gebildet, die wir ausräumen mussten. Anschließend haben wir in den Knochen eine Antibiotikakette eingelegt. Sie besteht aus vielen Medikamentendepots, die man sich wie aneinandergereihte Kügelchen vorstellen kann“, berichtet Dr. Jürgen Hauffen, der die Sektion für septische Chirurgie des Zentrums für Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum Ingolstadt leitet.

„Einen solchen Rückschlag muss man erstmal verkraften“, weiß Hauffen und berichtet, dass bei der Bewältigung solcher Extremsituationen und langer Krankenhausaufenthalte im Klinikum Ingolstadt bei Bedarf auch Psychologen Unterstützung anbieten. Viel Kraft schöpfte Wilhelm aus den Besuchen seiner Familie und seiner Freunde. Trotz all der neuen Hiobsbotschaften ließ sich der große Kämpfer nie entmutigen: „Er war immer positiv, ließ sich helfen. Man spürte immer, dass er unbedingt gesund werden will und bereit ist, alles dafür zu tun. Seine Power und sein Wille haben uns alle im Klinikum beeindruckt“, erinnern sich die Mediziner Hauffen und Scherer.

Heute kommt Wilhelm im Alltag wieder gut zurecht, er arbeitet in einer Firma im strategischen Einkauf und genießt die Zeit mit seiner Familie. Vor ein paar Wochen hat er sich selbst einen Traum erfüllt – ohne seine Ärzte vorher einzuweihen, weil diese aus Sorge um seine Gesundheit die Hände über den Köpfen zusammengeschlagen hätten: „Ich habe meinen Gleitschirm eingepackt, bin ins Allgäu gefahren und zum ersten Mal seit meinem Unfall wieder geflogen“, verrät der 36-Jährige, der in Windach bei Landsberg lebt. Vom Himmel aus – dem er nach seinem Crash schon mal viel näher gekommen war, als ihm lieb ist – ging es glücklich hinunter ins Tal: mitten ins Leben.

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